Jazz-Kissa-Kultur: Abschalten, herunterfahren, genießen
Das Phänomen der Jazz-Kissa entstand Ende der 1920er Jahre in Japan. Wo auch sonst?
Von Leo Yeh und Ingo Schulz. Fotografie: Leo Yeh, Ingo Schulz, Spiritland, Ed Reeve
Japan, das Land der perfekt kultivierten Zeremonien. Aus der Not heraus entwickelte sich dort vor rund hundert Jahren eine völlig eigene Art, Musik zu zelebrieren. Langspielplatten kosteten damals etwa ein Viertel des Wochenlohnes eines qualifizierten Angestellten. Für die meisten war das entschieden zu viel. Also legten erfinderische Musikliebhaber zusammen und kauften Schallplatten, um sie dann gemeinsam zu hören. Meist ging es bei der Musik – wir sprechen schließlich über die wilden Zwanziger – um amerikanischen Jazz. Von da war es nur noch ein kleiner Schritt zu den ersten Jazz-Kissas in Tokio, Yokohama und Kobe: Teestuben, wenn man es wörtlich nimmt, in denen das gemeinsame Hören für jedermann zugänglich wurde. „Kissa“ bedeutet nichts weiter als „eine Tasse Tee trinken“. Jazz-Kissas waren und sind also Orte, an denen man Musik (auch heute noch bevorzugt Jazz) hören und eine Tasse Tee trinken kann. Und die ist bekanntlich deutlich preiswerter, als eine Langspielplatte selbst zu kaufen.
Das Phänomen begann um 1926 in Tokio mit einem Café namens „Lion“, das es übrigens noch heute gibt. Es lädt nach wir vor zum andächtigen Musikhören bei Tee oder frisch gepresstem Orangensaft. Ausgerechnet das erste Kissa steht allerdings auch gleich für einen Stilbruch, denn im Lion steht Klassische Musik im Vordergrund. Die Blaupause des ausgemachten Jazz-Kissas lieferte drei Jahre später das 1929 eröffnete „Black Bird“. Das Café wurde während des Krieges jedoch völlig zerstört, ein Verlust, der während dieser Zeit (zumindest offiziell) nicht sonderlich ins Gewicht fiel: Das Hören von amerikanischem Jazz war damals illegal. Ein Gesetz forderte sogar die Zerstörung aller „Feindmusik“. Doch die Fangemeinde der Kissas formierte sich in stummem Widerstand und konnte ganze Plattensammlungen während des Kriegs versteckt halten.
In den darauffolgenden 50er und 60er Jahren erlebten die musikalischen Cafés dann einen regelrechten Boom, der verschiedene Formen zutage förderte. Neben den traditionellen Kissas, in denen Alkohol, Essen, Tanzen und oftmals sogar Gespräche unerwünscht sind, etablierten sich Lokalitäten, in denen auch fürs leibliche Wohl gesorgt ist. Obwohl die goldenen Jahre des Jazz weit zurückliegen, hat sich das Phänomen der Kissas bis zum heutigen Tag gehalten. Und mehr noch: Die Szene ist lebendig wie nie zuvor. Die traditionellen und strengen Orte, an denen man schweigend Musik genießt, sind mittlerweile freilich in der Minderzahl. Bei den meisten Kissas handelt es sich um „musikalische“ Cafés, Bars oder Clubs, in denen die Klangqualität deutlich über der Lautstärke steht. Und da die Kissa-Szene – typisch japanisch – äußerst traditionsbewusst ist, finden die meisten Betreiber den optimalen Klang für ihr Café im Vintage-Audio. Nicht selten trifft man hier auf Komponenten von Marken wie Altec, JBL, Tannoy, EMT, Garrard oder auch McIntosh.
Wer ein klein wenig tiefer in die Materie der Jazz-Kissas einsteigen möchte, dem sei die Website www.jazzcity.store empfohlen. Dort gibt es kleine Publikationen namens Gateway to Jazz Kissa. Band 1 ist bereits als englische Ausgabe erhältlich, Band 2 wird bislang nur als japanischer Ausgabe verlegt. Die englische Ausgabe wird aber sicher bald veröffentlicht werden.
Es hat erstaunlich lange gedauert, bis der Grundgedanke des gemeinsamen Musikhörens in der westlichen Welt überhaupt Fuß fassen konnte, und noch immer sind dies nur vereinzelte, spärliche Anfänge. Aber der Charme der Entschleunigung bahnt sich seinen Weg. Ein Beispiel sind etwa die „Classic Album Sundays“, die 2010 von der Radiosprecherin, Journalistin und DJane Colleen „Cosmo“ Murphy ins Leben gerufen wurden: Bei diesen Events hört sich das Auditorium gemeinsam ein ganzes Album am Stück an. Auch hier spielt die hochwertige Anlage eine zentrale Rolle. Das Hörerlebnis wird ergänzt mit Diskussionen und kleinen Vorträgen, die Hintergrundinformationen zum Album vermitteln. Die „Classic Album Sundays“ sind eine amerikanische Erfindung, konnten sich mittlerweile jedoch zu einer weltweiten Bewegung entwickeln (www.classicalbumsundays.com). Auch das Rocky Mountain Audio Fest ist ein beliebter Anlaufpunkt, wenn es darum geht, auf einer Referenzanlage ein ganzes Album zu hören und mal „runterzufahren“.
Dieses bewusste und ablenkungsfreie Runterfahren beim gemeinschaftlichen Musikhören haben sich derweil auch die „Playtime Album Sessions“ (www.timeforplaytime.de) in Deutschland zur Aufgabe gemacht. Die Idee dahinter: Kinos besitzen eine hervorragende Akustik und sind in der Regel mit exzellenten Soundsystemen ausgestattet. Sie sind geradezu optimal dazu geeignet, dass man sich dort Vinyl auf höchstem Niveau anhört. Ein Konzeptalbum wie Pink Floyds The Dark Side Of The Moon wird da, von Vinyl in einem Kinosaal gehört, bestimmt zu einem unvergesslichen Erlebnis. Die „Playtime Album Sessions“ gastieren bundesweit in unterschiedlichen Kinos, und die Idee soll zukünftig auch über die Grenzen Deutschlands hinaus in andere europäische Länder getragen werden. Eine großartige Idee, wie wir finden.
Einen ganz eigenen Weg haben neuerdings audiophile Bars und Restaurants eingeschlagen, die sich prinzipiell am japanischen Konzept der Kissa-Cafés orientieren: Bekannte Vertreter sind das „In Sheeps Clothing“ in Los Angeles, das „Brilliant Corners“ in London (www.brilliantcornerslondon.co.uk) oder das „Edit“ in Bristol (www.editbristol.com), das seine Gäste mit einem Soundsystem bestehend aus Klipschs La Scala, Cornwall und Heresy in Verbindung mit Röhrenverstärkern von Icon Audio verwöhnt. Die Audiosysteme spielen dabei eine tragende Rolle, grundsätzlich geht es aber auch hier vorrangig darum, kuratierte Musik unterschiedlichster Genres über angemessene HiFi-Anlagen zu genießen.
Noch einen Schritt weiter geht das Spiritland-Konglomerat in London (www.spiritland.com). Es besteht aus einer ganzen Reihe von Lokalitäten für Musikliebhaber: ein Café, eine Bar sowie ein Radiostudio in King’s Cross. Außerdem gibt es ein Geschäft für Kopfhörer und Portables in Mayfair sowie ein Restaurant und eine Bar in der Royal Festival Hall. Sämtliche Orte entspringen einer tiefen Leidenschaft zur Musik und der begleitenden Kultur. Gegründet wurde Spiritland 2014 als eine temporäre Installation in der „Merchants Tavern“ in Shoreditch, East London. Im September 2016 wurde das „Spiritland King’s Cross“ eröffnet. Tagsüber ist es ein Café und ein Arbeitsraum, nachts eine stilvolle Bar mit 70 Sitzplätzen und einer Speisekarte, die zum hochwertigen Sound und zum Design der Räumlichkeiten passt. Auch ein Radiostudio gibt es dort, in dem regelmäßig Podcasts, Sendungen und Live-Übertragungen produziert werden.
Sogar die altehrwürdige BBC war hier schon zu Gast. Das gewaltige Living-Voice-Soundsystem wird durch Equipment von Atelier du Triode, Kuzma (nebst MC-Tonabnehmer Audio-Technica ART 1000), Sudgen Masterclass (FPA 4) und dCS sowie durch einen eigens für Spiritland angefertigten Isonoe-Mixer ergänzt. Weitere Wiedergabequellen sind zwei von Isonoe modifizierte SL-1200-Technics-Plattenspieler mit einer Vielzahl von Tonabnehmern, darunter Audio-Technicas Dual Moving Magnet Stereo-Cartridges AT-XP 7, ein Tascam DA-3000 Hi-Res Recorder, ein Revox B77 Tape Recorder, zwei Pioneer CDJ-2000 NXS2 CD-Player, ein Studer A730 CD-Player und noch vieles mehr … Allein der Gerätepark dürfte das „Quasi-Kissa“ am King’s Cross also zur lohnenden Anlaufstelle für audiophile Englandreisende machen.
2018 kam schließlich noch das „Spiritland“ in der Royal Festival Hall hinzu. Hierbei handelt es sich um eine Bar mit angeschlossenem Restaurantbetrieb. Mit 180 Plätzen ist es deutlich größer als das Café am King’s Cross, beschallt wird es von einem hybriden Living-Voice- und D&B-Audiotechnik-Soundsystem. Es verfügt über EMT-Plattenspieler und einen maßgeschneiderten Can-Electric-Mixer. Den bisher letzten Coup landeten die Betreiber schließlich 2019 mit ihrem „Spiritland One“, einem Außenübertragungswagen der Weltklasse, der für Liveaufnahmen, Produktion, Musikmischung und Übertragung konzipiert wurde (www.spiritlandproductions.com).
Vor allem das originäre „Spiritland“ am King’s Cross ist ein wunderbarer Ort für jeden, der sich entspannen möchte – auch wenn man kein Audiophiler ist. Man muss sich ernsthaft fragen, warum es in Deutschland keine vergleichbaren Cafés, Bars oder Restaurants gibt, die so herrlich zum Entschleunigen und Musikhören einladen. Oder übersehen wir sie einfach nur? Sollten Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, vergleichbare Orte in Deutschland bekannt sein, geben Sie uns bitte einen Tipp. Sie müssen nicht so groß und perfekt sein wie „Spiritland“, aber im weitesten Sinne in der Tradition der Kissa-Cafés stehen. Der spannendsten Location würden wir in der Zeit nach Corona gern einen Besuch abstatten und darüber berichten.