Jars of Clay – Much Afraid
Spätestens wenn die Brothers-In-Arms-CD endgültig verschlissen ist, der Text von „Hotel California“ keine Rätsel mehr aufgibt, die Gänsehaut bei „Stimela“ einer neurotischen Beklemmung weicht und man die Cover der schweren Diana-Krall-Scheiben lieber nur betrachtet, statt die LPs aufzulegen, wird es Zeit für neue Test-Musik. Aber welche? FIDELITY weiß Rat.
Es ist das Jahr 1997, in einem der damals noch zahlreichen Plattenläden der Stadt. Mir fällt ein überwiegend sandfarbenes Cover mit einem jungen Paar darauf ins Auge. Sommerliche Stimmung, Hand in Hand die beiden. Ich hatte zuvor nie etwas von der Band Jars of Clay gehört, aber als ich mir die Rückseite der CD vornahm (damals prüfte ich immer Label und Produzent), entdeckte ich einen Namen, der mich die Platte ungehört mit zum Tresen nehmen ließ: Stephen Lipson!
Der britische Produzent hatte bis dahin viele meiner Lieblingskünstler produziert und durchweg meinen Geschmack getroffen, egal ob mit Frankie goes to Hollywood, den Simple Minds (ja, er ist mit Trevor Horn zusammen der Produzent der Street Fighting Years), Grace Jones oder später dann auch mit Billie Eilish und Hans Zimmer. Ungehört gekauft – und tatsächlich hat es einige Hördurchgänge gebraucht, bis das Album Much Afraid zu einem meiner prägendsten Alben wurde. Das knapp siebenminütige „Frail“ sollte mich durch so manche Vorführung auf Messen oder bei Händlern begleiten. Der zuerst in ruhigem Tempo gehaltene, zu Beginn durch die gezupfte Akustikgitarre bestimmte Song baut sich zur Mitte hin immer weiter auf, bis der Einsatz des – ja, man kann sagen monumentalen Schlagzeugs mit kraftvoll und groß dimensionierten Toms den Einstieg in die orchestral gestaltete zweite Hälfte markiert. Von intimer Folkatmosphäre hin zu mächtigen Klängen – irgendwo zwischen Progressive Rock und Filmmusik – liefert dieses Stück so viel Dynamik und unterschiedliche Elemente, dass es weniger gute Anlagen in kurzer Zeit als ebensolche entlarvt. Wird es im vollmundigen zweiten Teil unübersichtlich, sind Verstärker oder Lautsprecher eindeutig überfordert. Bleibt es dagegen klar, durchsichtig, mit guter Tiefenstaffelung, haben wir eine gute, ausgewogene Anlage vor uns. Und diese Art audiophile Messlatte ist das Album und ganz speziell „Frail“ bis heute für mich.
Sänger Dan Haseltine hat bei der Albumvorstellung 1997 gesagt: „Frail“ handelt davon, Schwäche zeigen zu können, um wirklich stark zu sein und sich nicht dadurch zu blockieren, dass man seine Schwächen ständig versucht zu verstecken. Seine zugegebenermaßen eher hohe Stimme war damals der Grund für mich, warum ich erst später mit dem Album warm geworden bin. Was von Anfang an aber funktionierte, war die Qualität der Aufnahme und auch die Qualität des Masterings durch Stephen Marcussen, der fast jeden namhaften Weltstar auf seinen Monitorlautsprechern hatte. Beispiele gefällig? Schon mal was von Prince, REM, The Rolling Stones, Roy Orbison oder Leonard Cohen gehört? Zugegeben, die Frage war rhetorisch. Aber diese hohe Qualität der Produktion hört man bis heute.
Erst sehr viel später fand ich dann heraus, dass die Band Jars of Clay zum Kreise der christlichen amerikanischen Rockbands zählt. Allerdings: Sie lassen sich zwar von ihrem Glauben zu den behandelten Themen inspirieren, machen Religion an sich aber nie zum eigentlichen Thema ihrer Songs. Vielleicht ein Grund dafür, warum die Band auch über die Genregrenzen hinaus erfolgreich ist. Zumal sie auch als Support von Sting oder Matchbox 20 auf Tour waren.
Das Album hat die Band in einer neuen, recht schwer zu findenden Akustikversion nochmals während der Pandemie eingespielt. Sowohl die Neuaufnahme als auch die originale Version sind auf Vinyl sehr rar und zum Zeitpunkt meiner Recherche nie unterhalb des dreistelligen Euro-Bereichs zu haben.
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