Japanese Jazz Spectacle Vol. 1
Spätestens wenn die Brothers-In-Arms-CD endgültig verschlissen ist, der Text von „Hotel California“ keine Rätsel mehr aufgibt, die Gänsehaut bei „Stimela“ einer neurotischen Beklemmung weicht und man die Cover der schweren Diana-Krall-Scheiben lieber nur betrachtet, statt die LPs aufzulegen, wird es Zeit für neue Test-Musik. Aber welche? FIDELITY weiß Rat.
Bei meinen Plattenkäufen gehe ich selten zielstrebig vor. Oft lasse ich mich durch die Optik der Cover zum Kauf verleiten. Auf diese Weise bin ich in den Besitz einiger Perlen gekommen, deren musikalischer Genuss mir sonst verwehrt geblieben wäre. Hierzu gehört die Doppel-LP Japanese Jazz Spectacle Vol. 1 mit dem Untertitel Deep, Heavy And Beautiful Jazz From Japan 1968 – 1984. Die Gestaltung der Plattenhülle mit einem Sonnenuntergang über dem Meer in traditioneller japanischer Grafik (ähnlich der „Großen Welle vor Kanagawa“ von Katsushika Hokusai) machten mich neugierig.
Zusammengestellt wurde die Compilation von Yusuke Ogawa. Den Einstieg in das Klangkaleidoskop dieses Samplers übernehmen Tadaaki Misago und die Tokyo Cuban Boys mit „Sakura Sakura“. Üppig instrumentierter afrokubanischer Bigband-Sound mit in Jazzrock übergehenden Sequenzen mischen die Gehörgänge munter auf.
Weiter geht es mit meinem Favoriten des Doppelalbums: Minoru Muraoka mit den New Jazz Players ist auf „Muraiki“ mit der Shakuhachi zu erleben, einer aus der traditionellen japanischen Musik stammenden Bambuslängsflöte. Mit heftigen Anblasgeräuschen gespielt, führt sie (oder ist es doch ein fauchender Ryū?) spektakulär in das sich langsam aufbauende Stück ein. Die Vibrafonklänge steigern die mysteriöse Stimmung. Der Klangfarbenreichtum und die heftige Dynamik stellen hohe Anforderungen an die Wiedergabekette.
Nicht minder spannend ist „Mago-Uta“, die Interpretation eines japanischen Folksongs von Count Buffalo & The Jazz Rock Band. Traditionell klingende Melodien leiten in einen Rare-Groove-verdächtigen Jazz, der sich immer freier werdend steigert, um schließlich wieder in der japanischen Melodie auszuklingen.
Soul Media bietet mit „Breeze“ den nun nötigen Balsam für den Nervus Vestibulocochlearis. Auf einem Fundament von souligem Bass und lebendigen Percussion-Rhythmen schweben E-Piano und Gitarrensounds, ergänzt von entspannten Bläsersätzen. Treffend beschreibt Yusuke Ogawa den Charakter des Stücks: „verhaltene Funkyness mit bitter-mildem Feeling“. Dessen hervorragende Aufnahme wird auch audiophilen Ansprüchen gerecht.
Aus gänzlich anderem Holz geschnitzt ist das darauffolgende „Sea View“ von George, das Trio aus Bass, Schlagzeug und Orgel poltert und rumpelt aufs Allerfeinste. Vergleiche zu „Contort Yourself“ von James White & the Blacks drängen sich auf.
Die dritte Seite beginnt mit „Breath Prologue“. Eine melodiös gespielte Shakuhashi wird hier sparsam von Piano und Percussion begleitet. Darauf folgt als Kontrast „Do It!“, ein souliger Jazzrock-Höllenritt mit schrebbelnden Stromgitarren.
Hiroshi Susuki entspannt das Gemüt durch das mit relaxtem Flow gespielte „Romance“. Einen besonderen Charme hat der Dialog zwischen Saxofon und sonor klingender Posaune.
Nach der Klangcollage „Fourth Expression“ wird es wieder wild. Im Titel „Mustache“, einer Liveaufnahme aus dem Jahr 1970, komprimieren Takeshi Inomata & Sound Ltd. auf neun Minuten eine Mixtur aus Soul, Swing und Jazzrock, die in einer furios interpretierten Beatles-Melodie gipfelt.
Japanese Jazz Spectacle Vol. 1 ist ein aufregendes Doppelalbum, das meine volle Aufmerksamkeit beansprucht. Die ruhigeren Stücke mit ihren fremdartigen Melodien und Klangstrukturen lassen meine Gedanken aufs Angenehmste in die Ferne schweifen. Genau das Richtige für einen Reset der Hörgewohnheiten.
Japanese Jazz Spectacle Vol. 1
Deep, Heavy And Beautiful Jazz From Japan 1968 – 1984
Label: The Nippon Columbia Masters
Format: Doppel-LP
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