Die Bandmaschine ist für den Musiker wie ein fiktives Publikum
FIDELITY im Gespräch mit der Pianistin/Komponistin Julia Kadel
Fotografie: Timo Jäger
Sie war noch Studentin, als das Debütalbum ihres Trios herauskam – beim renommierten Label Blue Note Records. Für die Aufnahmen zu Kaskaden, dem dritten Album des Julia Kadel Trios, hat die Berliner Jazzpianistin mit ihren Kollegen Karl-Erik Enkelmann und Steffen Roth ganz neue Wege eingeschlagen – sie entstanden im MPS-Studio in Villingen mit dem originalen Analog-Equipment der Musik Produktion Schwarzwald. Es war die erste Plattenproduktion überhaupt, die dort stattfand, nachdem das legendäre Label 1982 seine Arbeit eingestellt hatte. FIDELITY traf die Berliner Pianistin nach einem Konzert im Kallmann-Museum in Ismaning im Rahmen der Record-Release-Tour.
Miles-Davis – meine erste Berührung mit Jazz!
FIDELITY: Euer analog aufgenommenes Album Kaskaden erschien im letzten Herbst nicht nur als CD, sondern natürlich auch als LP. Schlägt dein Herz denn für Vinyl, bist du persönlich Plattenhörerin?
Julia Kadel: Ich muss zugeben, ich habe noch nie einen Plattenspieler besessen, bin aber gerade dabei, mir einen anzuschaffen, zu schauen, was für ein Modell für mich in Frage käme. Ich bin immer CD-Hörerin gewesen, bin mit CDs aufgewachsen, mein CD-Regal hier ist echt groß. Aber mein Vater hört gerne Jazz und spielte uns seine Platten vor. Außer Jimi Hendrix, Earth, Wind & Fire, Deep Purple und Bachs Weihnachtsoratorium eben auch Miles-Davis-Platten – meine erste Berührung mit Jazz! Das ist ein Klang, den ich kenne und liebe, nach dem ich immer wieder suche. Und bald wird es also auch bei mir zu Hause so weit sein …
Wie hörst du sonst Musik, wenn du nicht zu Hause bist? Streamst du?
Wenn ich unterwegs bin, höre ich eigentlich gar nicht so viel. Ich brauche Wände um mich herum, wenn ich bewusst hören will. Als hochsensibler Mensch kann man nicht zu viele Input-Quellen gleichzeitig verarbeiten – ich mag selten Musik nebenbei hören, brauche einen äußeren und inneren Raum dafür, und den finde ich meistens zu Hause. Für unterwegs nehme ich dann digital gespeicherte CDs mit, die ich auf dem Handy abspiele, habe natürlich auch meine iTunes-Mediathek dabei. Aber eigentlich bin ich richtig oldschool, gehe auf keine dieser Streaming-Plattformen und möchte diese auch nicht unterstützen.
Vom Konzert ins Studio
Stichwort analoger Sound: Was war für euch der Einstieg beim Jazz-Label MPS, wie kam es zur Zusammenarbeit?
Das ist eine schöne Geschichte. Wir waren im Januar 2018 in Villingen im Schwarzwald, um mit dem Trio einen Gig zu spielen. Es gibt da diesen alten, traditionsreichen Jazzclub in einem Gewölbekeller, total cool. Bei unserem Auftritt waren auch die Chefs vom MPS-Studio, und als wir uns danach unterhielten, wurden wir von denen ganz spontan zu einem Studiobesuch eingeladen: „Wie wär’s, wollt ihr nicht mal morgen vorbeischauen, das ist alles analoge Tontechnik bei uns …“
Wir sind ja alle drei soundaffin; Kalle (Karl-Erik Enkelmann), unser Bassist, arbeitet zum Beispiel auch als Produzent und Sound Engineer. Wir sind also am nächsten Morgen richtig früh aufgestanden, um vor der Weiterreise noch das Studio besuchen zu können. Ich hab mich dann im MPS-Studio erstmal an den Bösendorfer-Flügel gesetzt – und sofort in das Instrument verliebt. Ich dachte gleich: Hier hab ich Lust, aufzunehmen.
Als es dann im April 2019 bei MPS losging mit der Produktion von Kaskaden, habt ihr auch mit dem Aufnahmeteam von dort gearbeitet?
Julia Kadel: Klar, das bot sich an, selbstverständlich kennt sich das Aufnahmeteam des Hauses am besten mit den Raumverhältnissen und dem Equipment aus. Die alten Telefunken-Bandmaschinen, die ganze analoge Studiotechnik dort war super in Schuss, und unser Aufnahmeleiter von MPS, Marcus Zierle, konnte damit natürlich ausgezeichnet umgehen. Und wir merkten sofort: Dieses Studio ist wie gemacht dafür, dass man Klaviertrio aufnimmt! Früher war zum Beispiel Oscar Peterson mit verschiedenen Trio-Formationen hier im Studio …
Es fühlt sich anders an, wenn man näher zusammen steht.
Man sieht es auch auf den Fotos, die bei den Sessions entstanden – eure Aufstellung bei der Aufnahme ist ziemlich dicht beieinander. Kann das auch mal irritierend sein oder ist das optimal für euch?
Wir sind es von Proben und Konzerten her gewöhnt, immer so nahe wie möglich beieinander zu sein. Wenn man eine Platte aufnimmt, ist vor allem wichtig, dass das Schlagzeug nicht alles andere überspielt. Wir haben auch schon mal mit dem Schlagzeug weiter weg, mit einer Mauer dazwischen aufgenommen. Aber es fühlt sich anders an, wenn man näher zusammen steht. Ganz klar, für die Musik ist es umso besser, je näher man beieinander ist.
Aufnahme im MPS-Studio
Hier im MPS-Studio war es so, dass rechts neben dem Flügel der Bassist stand, und ich brauchte erstmal ein paar Minuten, bis ich mich daran gewöhnt hatte, ihn rechts direkt im Ohr zu haben. Hinter ihm links, ein bisschen versetzt, war Steffen Roth mit seinem Schlagzeug, und da haben wir auch ein bisschen abgeschirmt vom Sound her, es standen kleine Stellwände zwischen Schlagzeug und Bass. Es ist natürlich extrem wichtig, dass man sein Spiel an diese Raumsituation anpasst.
Da ist ja einiges zu bedenken und auszuprobieren, bevor es mit der Aufnahme losgehen kann …
Tatsächlich war es ein Soundcheck, wie wir ihn noch nie hatten: Man spielt, geht in den Control Room und hört, wie es auf Band aufgenommen klingt, dann stellt man Musiker*in und Mikrofone minimal um, spielt wieder, hört sich das nochmal an – dieser analoge Soundcheck hat wirklich ein paar Stunden gedauert.
Analoges Aufnehmen ist etwas besonderes
Der Prozess war also grundsätzlich ein anderer als bei den Digitalaufnahmen früherer Produktionen?
Julia KadelBei einer analogen Aufnahme ist es so, dass du das Mixing, also die Klangeinstellung, im Soundcheck bei der Aufstellung vornimmst. Bei uns wurde ja einfach auf Bandmaschine aufgenommen, und dann gingen die Bänder direkt ins Master-Studio. Das heißt, die ganze digitale Soundbearbeitung entfällt. Insofern ist analog Aufnehmen schon etwas Besonderes.
Wie frisch waren die Stücke, als ihr ins Studio gegangen seid? Habt ihr sie davor schon im Konzert ausprobiert?
Julia Kadel: Außer dem Solostück waren alle Stücke bereits geschrieben, und wir haben sie auch alle schon vorher in vielen Konzerten live gespielt. Das ist wichtig bei der Musik, weil sich bestimmte Dinge nur live ergeben, nur in der Interaktion mit dem Live-Publikum Sachen entstehen, die „trocken“ im Probenraum oder Aufnahmestudio nicht entstehen können. Es macht natürlich einen Unterschied, ob uns Menschen ihr Gehör schenken und teilnehmen an dem Raum, den wir mit Klang erfüllen, oder nicht. Das Solostück „Nothing to force“ war allerdings komplett neu, das habe ich extra für den Flügel dort geschrieben.
Ein besonderer Flügel
Was ist denn das Besondere an diesem Flügel?
Es ist ein Bösendorfer Grand Imperial, das größte Flügel-Standardmodell überhaupt. Der Imperial hat in der Tiefe zusätzliche Tasten, die andere Flügel nicht haben. Diese Tasten sind übrigens alle schwarz, auch die üblicherweise weißen Untertasten, und die mit ihnen erzeugten Töne sind so tief, dass man beim ersten Hören geradezu nach Klangreferenzen und Assoziationen suchen muss, um sie wahrnehmen zu können, so ungewohnt klingen sie.
Sie eröffnen eine ganz andere Klangwelt als die übrigen, mit dem normalen Tastenumfang des Flügels erzeugten Töne, und gleichzeitig schwingen auch mehr bzw. andere Obertöne mit als sonst. Meine ersten Assoziationen waren das Rumoren eines Vulkans, große LKWs, riesige Metallwerkstätten, in denen auf lange Metallstäbe geschlagen wird.
Das hat mich total geflasht
Hört sich nach einem echten Leckerbissen für den audiophilen Hörer an …
Auch die Klänge in den oberen Registern des Flügels können auf ganz eigene Weise mit diesen tiefen Frequenzen interferieren, da ergeben sich völlig neue Klangspektren und Spannungsfelder. Das hat mich total geflasht und dazu motiviert, gerade das Solostück der Platte speziell für den Bösendorfer-Flügel im MPS-Studio zu schreiben. Ein Stück, das besonders in der Tiefe klingen sollte, dabei aber auch den gesamten Tonvorrat des Flügels auffächern würde. Ich habe bewusst Teile des Themas in die tieferen Oktavregionen verpflanzt und war neugierig: Was passiert da eigentlich, wenn die Melodien und Klänge tiefer als gewöhnlich liegen? Es hat mir total Spaß gemacht, das zu erforschen.
Allerdings konnte ich daheim an meinem Flügel nur versuchen, mir die besonders tiefen Basstöne des Imperial vorzustellen. Eine Situation, die uns vielleicht erahnen lässt, wie es Beethoven erging, als er beim Komponieren mehr oder weniger taub vor den Tasten saß […] und so bin ich dann einen Tag früher als die Jungs ins Studio nach Villingen gefahren, um die entscheidenden Stellen vor Ort auszuprobieren und in das Stück zu integrieren.
Ich liebe es, wenn mich das Instrument herausfordert
Welche Instrumente kommen generell deiner Klangvorstellung und Spielweise entgegen? Spielst du gerne auf einem Bösendorfer?
Julia Kadel: Ja, sehr gerne! Die Bösendorfer-Instrumente haben etwas Orchestrales, Vielfarbiges im Klang und vor allem: Volumen. In der Tiefe, in den tiefen Mitten und auch in den Mitten. In den höheren Lagen können die einzelnen Instrumente allerdings sehr unterschiedlich sein. Auch der Anschlag gefällt mir sehr, wobei da jeder Flügel natürlich verschieden ist. Prinzipiell mag ich aber einen schweren Anschlag.
Und ich liebe es, wenn mich das Instrument herausfordert, überrascht. Wenn es so viel Varianz bietet in Volumen und Klangfarben, dass man es entdecken kann. Dass man gar nicht mehr aufhören möchte zu spielen und denkt: ,Oh, hier klingt es ja so, und ah, hier so‘, sich hinsaugen lässt in den Klang und das Instrument … So war es mit diesem Flügel, und so etwas erlebe ich nicht oft.
Dieser Take, das ist es jetzt!
Was für eine Art von Erlebnis war die analoge Aufnahmesituation für euch Musiker?
Wenn du ins Studio gehst, nimmst du etwas auf für die Ewigkeit, und du spielst deshalb ein und dasselbe Stück vielleicht mehrmals. Live, im Konzert spielst du alles natürlich nur einmal – das ist eine andere Auffassung von Zeit und ein anderes Konzept von Musik.
Das analoge Aufnehmen war für mich etwas zwischen digitalem Aufnehmen und Livekonzert. Vom Empfinden der Musik und auch von der Geisteshaltung her ist die analoge Aufnahmesituation fast wie ein Konzert – die Bandmaschine ist dann für den Musiker so etwas wie ein fiktives Publikum. Sie läuft da hinten mit, und du weißt: Dieser Take, das ist es jetzt! Klar, das denkst du auch bei einer digitalen Aufnahme, aber bei einer analogen Aufnahme unterliegst du ja der technischen Beschränkung, dass nur eine begrenzte Bandlänge zur Verfügung steht.
Anders als beim digitalen Aufnehmen, wo du eine unbegrenzte Speicherkapazität zur Verfügung hast. Auch deshalb wussten wir: Wir spielen einen Take, und that’s it! Teilweise gelang uns das auch. Bei einer analogen Aufnahme musst du ja sonst zurückspulen, du musst wirklich ein, zwei Minuten zurückspulen, bis du wieder da bist, wo du weitermachen kannst.
Durchkomponiert
Die Musiker müssen also bei einer Aufnahme im Analogstudio besonders gut vorbereitet sein?
Julia Kadel: Es ist ein entscheidender Schritt, wenn man sagen kann: Wir sind so weit, wir gehen jetzt ins Studio und nehmen unsere Musik analog auf – die ja immer noch etwas Unvorhersehbares hat, weil sie zum Teil improvisiert ist. Da haben wir entschieden, dass nichts mehr verändert werden muss, dass der Moment des Spielens „perfekt“ sein wird für diese Aufnahme.
Alle Stücke des aktuellen Albums sind Kompositionen von dir. Verändern sie sich, wenn das Trio sie immer wieder in Konzerten spielt? Wie ist die Balance zwischen Improvisation und Komposition – live und im Studio?
Julia Kadel: Während wir für die beiden früheren Alben jeweils zur Hälfte Improvisationen und Kompositionen aufgenommen haben, bringen wir auf Kaskaden ein Programm, das nur aus Kompositionen besteht – haben aber für uns ein neues Level an interpretatorischem Umgang mit den Kompositionen erreicht. Wir spielen immer wieder dieselben Stücke bei den Konzerten, spielen bei den Liveauftritten aber natürlich auch Impros. Aber gerade die komponierten Stücke waren einfach alle so stark und so lebendig in ihrer improvisatorischen Interpretation, dass wir gesagt haben, die müssen alle auf die Platte, und das hat dann bei Kaskaden auch einen sehr guten dramaturgischen Bogen ergeben.
Adäquat und kreativ umgesetzt
Wenn du ein Stück komponierst, was legst du dann fest, was notierst du für dich und deine Musiker: eine formale Struktur, Harmoniefolgen, Rhythmen?
Ich habe unterschiedliche Konzepte für Stücke. Teilweise sind es ausgeschriebene Teile – etwa bis hin zu Gong-Klängen vom Schlagzeug, die zwar als solche notiert sind, aber nicht, wann sie kommen. Meine Stücke sind eine Mischung aus Ausgeschriebenem auf verschiedenen Ebenen und Konzeptimprovisationen, die der Komposition dienen. Mit einer offenen Hintertür: dass es Spontan-Ausflüge geben darf. Ich denke auch, dass die Kompositionen auf diesem Album in den Improvisationen sehr inspiriert sind von der langjährigen Erfahrung mit diesem Trio in genau dieser Besetzung. Inzwischen kann ich mich beim Komponieren eines sehr großen im Kopf vorhandenen Klangrepertoires bedienen, habe die Stücke also bewusst so schreiben können, wie ich sie geschrieben habe – wohl wissend, dass meine musikalischen Anweisungen adäquat und kreativ umgesetzt werden.
Eine emotionale und persönliche Ebene
Man hört, dass du ganz stark in Klängen denkst, nicht nur vordergründig in Stimmungen, sondern in Klangereignissen. Unwillkürlich ergänzt man sich den Albumtitel zu „Klangkaskaden“. Der CD ist das französische Gedicht Cascade beigefügt, dessen Sprachbilder zu Assoziationen einladen – „flots incessants“, „vaines illusions“ „chant d’ivresse“ „ondes de mots“ …
Das Gedicht hat ein Freund von mir geschrieben, Thibaut Gasnier. Es war seine persönliche Interpretation der Musik auf dem Album. Ich mag einfach, dass meine musikalische Erlebenswelt auch in dieser anderen Sprache ihren Ausdruck findet. Früher waren ja alle meine Kompositionstitel deutschsprachig, inzwischen spreche ich aber im Alltag auch sehr viel Englisch und Französisch, und ich präsentiere daher Kaskaden ganz bewusst mit Elementen aus diesen drei Sprachen.
Thibauts Gedicht ist neben dem Titel „Tranquille“ der französische Part. Ich wollte ihn da einfach machen lassen, wir haben gar nicht viel über den Inhalt gesprochen, und jede Person, die das Gedicht liest, kann sich dabei etwas Eigenes vorstellen … Kaskaden kann man ja wirklich auf vielen Ebenen wahrnehmen, und es ist eine sehr emotionale und persönliche Ebene, die Thibaut dort einnimmt; mich hat sie sehr berührt.
Die Keimzelle meines musikalischen Schaffens
Du trittst nicht nur mit deinem Trio auf, sondern auch als Solo-Projekt – 2019 zum Beispiel im Goethe-Institut in Lyon und auf den Internationalen Klaviertagen in Zingst. Entsteht dafür dann ganz neue Musik oder bedienst du dich bei solchen Gelegenheiten auch bei deinen eigenen Kompositionen aus dem Trio-Repertoire?
Julia Kadel: Ich habe Stücke, die ich nur für Soloklavier komponiert habe. Das ist so etwas wie die dichteste Keimzelle meines musikalischen Schaffens: Man spielt solo und hat ein orchestrales Instrument vor sich. Es ist ein permanenter Monolog, den ich da führe, auch kompositorisch. Tatsächlich verwende ich aber auch Stücke aus Programmen mit anderer Besetzung – vom Trio bis hin zum Sextett – für Solokonzerte, die ich dann natürlich umarrangiere in eine konzentrierte Solofassung oder sie sehr frei verwende. Da macht es dann Spaß zu schauen, was das mit dem Stück macht. Und natürlich improvisiere ich bei Soloauftritten auch viel.
Wie blickst du in die Zukunft? Sicher macht auch dir das Coronavirus einen dicken Strich durch die Termine, die in deinem Kalender stehen …
Ja, gerade wird ein Auftritt nach dem anderen abgesagt, das geht nun schon bis Ende Juni so. Darunter ein von mir organisiertes deutsch-französisches Projekt Anfang Juni in der Berliner Kulturbrauerei im Rahmen des Jazzdor-Festivals Strasbourg-Berlin. Schade, gerade auf diese Kollaboration hatte ich mich sehr gefreut.
Zeiten der Gentrifizierung
Du bist ja eine echte Berliner Pflanze, bist mitten im Bezirk Kreuzberg aufgewachsen. Wie hat dich Berlin in kultureller Hinsicht geprägt?
Julia Kadel: Ich bin Großstädterin, auch in meinem Herzen, und ich bin es gewohnt, als Berlinerin jeden Tag und jeden Abend scheinbar unendlich viele Möglichkeiten des kulturellen Inputs zu haben und auch internationale soziale Kontakte zu pflegen. Berlin hat sich gewandelt seit meiner Kindheit, ich habe das Gefühl, die Stadt ist noch härter geworden, wenn es ums Überleben geht. Teilweise hat sich die Atmosphäre auf den Straßen verändert, die Mieten sind krass gestiegen …
Ist es schwierig, bezahlbaren Probenraum zu finden?
Julia Kadel: Mein Eindruck ist, dass ständig mehr Künstlerinnen und Künstler auf der Suche danach sind. Es gibt noch Probenräume, aber immer weniger. Problematisch finde ich in diesem Kontext die fortschreitende Gentrifizierung, die inzwischen auch längst in dem Bezirk angekommen ist, in dem ich aufgewachsen bin. Dort ist es nun schon fast „schick“ – früher war mein Viertel eher entspannt, fast ein bisschen ranzig, hatte aber doch etwas sehr Charmantes.
Aber ich bin gerne Berlinerin. Was das Besondere an dieser Stadt ist, merke ich vor allem dann, wenn ich woanders bin. Berlin ist einfach eine unglaublich kulturreiche, bunte Stadt. Und ich bin dankbar dafür, dass ich ein Bild von Normalität von der sogenannten deutschen Kultur vermittelt bekommen habe – einer Kultur, die hier international ist, in der meine Klassenkamerad*innen und Nachbar*innen alle verschieden aussehen und wir eben alle unsere Berliner Kultur leben.
Festivals und Soloauftritte
Was für Projekte waren noch für den Frühling und Sommer geplant, die nun nicht stattfinden werden?
Zunächst die Trio-Tour durch Süddeutschland über Regensburg, Stuttgart, Heppenheim. Aber auch Soloauftritte Ende Mai auf Schloss Ettersburg und beim FineArt Jazz Gelsenkirchen, außerdem Ende Juli beim Jazzit-Festival im italienischen Collescipoli. Und die Zusammenarbeit mit dem Darmstädter Künstler Stefan Mayer-Twiehaus, mit dem eine gemeinsame Sound-Installation entstehen sollte. Hoffentlich kann wenigstens unser Trio-Konzert am 20. September im Essener Grillo-Theater stattfinden …
Es wäre sicher schade, wenn du den „Jazz Pott“, der dir bei dieser Gelegenheit überreicht werden soll, nicht persönlich entgegennehmen könntest … Wir gratulieren schon jetzt zu dieser Auszeichnung und bedanken uns für das Gespräch!