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Elbphilharmonie

Elbphilharmonie: Dem Ideal ein Stück näher

Wie man die Akustik der Hamburger Elbphilharmonie in den Griff bekommt

Die Unsicherheit ist gewichen

Die Hamburger Elbphilharmonie ist für jene, die Musik in bestmöglicher Qualität aufnehmen, eine Herausforderung

Wer ein Instrument erlernen will, der sollte sich auf Jahre intensiven Übens, auf harte Arbeit vor allem an sich selbst, auf Phasen des Zweifels und sogar Phasen des Scheiterns einstellen. Die Hamburger Elbphilharmonie lehrt uns, dass es mit Konzertsälen ähnlich zu sein scheint. Vor die Meisterschaft haben die Götter auch hier den Schweiß und die Tränen gesetzt. Doch nun sind die Sterne zum Greifen nahe. Die neue Bruckner-Aufnahme aus der „Elphi“ ist dafür ein aktuelles Beispiel.

Rückblende

Als der Kulturtempel in der Hamburger Speicherstadt vor fast vier Jahren, im Januar 2017, seine Pforten öffnete, war der Klang im Großen Saal, so ließ sich aus ungezählten Kritiken herauslesen, live alles andere als optimal. Und auch die bei Sony Classical veröffentlichte „First Recording“ mit Brahmssinfonien unter dem damaligen Stammdirigenten Thomas Hengelbrock vermochte im seinerzeitigen FIDELITY-Test nicht zu überzeugen. Es fehlte an Räumlichkeit, Transparenz und Präsenz – Tugenden, die von einem guten Konzertsaal, zumal von einem mit so vielen Vorschusslorbeeren gestarteten, erwartet werden.

Fragt man heute bei denen nach, die ganz nahe dran sind am Phänomen Elbphilharmonie, dann ist die Konstruktion des japanischen Architekten und Sounddesigners Yasuhisa Toyota im Grundsatz so brillant und audiophil wie erwartet, stellt allerdings für Toningenieure und -meister sowie für die Ausführenden selbst eine komplexe Herausforderung dar, weil vieles anders war und ist als gewohnt. Die Einblicke, die Dirk Lüdemann, Tonmeister beim Norddeutschen Rundfunk, der FIDELITY-Klassikredaktion gab, erinnern an besagten Lernprozess: Das „Instrument“ Elbphilharmonie wollte erkundet und gemeistert werden. So dachte man laut Lüdemann beispielsweise, auf künstliche Hallzugaben fast gänzlich verzichten zu können – und musste feststellen, dass dieser vermeintlich klangförderliche Purismus nicht umsetzbar war. Auch die verschiedenen Stimmgruppen des Orchesters waren nach Lüdemanns Worten gezwungen, andere als die gewohnten Lautstärke- und Balance-Konzepte für sich zu finden.

Jetzt auch in audiophil

Einen Dirigentenwechsel später ist man auf einem guten Weg, wenngleich noch nicht alle Probleme ausgeräumt wurden. Alan Gilbert, Hengelbrocks Nachfolger am Dirigentenpult, vertritt eine andere musikalische Philosophie – und er hat hörbar mit dem Orchester und mit dem Saal gearbeitet. Die aktuelle Aufnahme mit Anton Bruckners Siebter Sinfonie kann bedenkenlos auch einem audiophilen Publikum empfohlen werden und gibt zudem einen guten Eindruck vom Potenzial der Elbphilharmonie. Um bei unserem Bild zu bleiben: Man lauscht nicht mehr einem Anfänger, sondern einem arrivierten Künstler, der weiß, was er tut und was er musikalisch will.

Und doch ist noch ein wenig Luft nach oben, dürfen es ruhig noch ein paar „Meisterkurse“ mehr sein, um Balance und Raumstaffelung noch weiter zu optimieren. Folgt man Dirk Lüdemanns Argumentation, dann ist Musizieren und Aufnehmen in der Elbphilharmonie ein permanenter Lernprozess, eine lange Reihe von empirischen Untersuchungen auf der Suche nach dem besten Klang. Mit Bruckners Siebter ist das „Elphi“-Team dem gedachten Ideal ein Stück nähergekommen.

Sinfonie Nr. 7 NDR Elbphilharmonie Orchester, Alan GilbertAnton Bruckner
Sinfonie Nr. 7
NDR Elbphilharmonie Orchester, Alan Gilbert
Label: Sony Classical
Format: CD


Interview mit Dirk Lüdemann

Der Saal, entworfen und umgesetzt von dem Architekten und Sounddesigner Yasuhisa Toyota, zeigte klangliche Tücken und stellte Toningenieure, Orchester und Solisten vor massive Probleme. Dirk Lüdemann, Tonmeister beim Norddeutschen Rundfunk, kennt die „Elphi“ von Anfang an – und er spricht im FIDELITY-Interview Klartext.

FIDELITY: Herr Lüdemann, die erste symphonische Aufnahme aus der „Elphi“ mit zwei Brahms-Symphonien unter Hengelbrock war klanglich keine Offenbarung, die Bruckner-Produktion unter dem neuen Chefdirigenten Alan Gilbert erscheint da wie aus einem anderen Saal. Was ist anders geworden? Ist es die größere Routine der Tonmeister in Sachen Saal, sind es die Nachbesserungen an der Akustik – oder hat sich das NDR-Symphonieorchester auf die „Elphi“ eingespielt?

Lüdemann: Die erste Aufnahme aus der Elbphilharmonie ist auch aus meiner Sicht klanglich nicht optimal gelungen. Wir Tonmeister und unsere Toningenieure im NDR hatten eine hohe Erwartungshaltung an die Akustik. Der Ruf, der Yasuhisa Toyota vorauseilte, und die Art, wie er sich und das Projekt Elbphilharmonie präsentierte, hatten uns sehr beeindruckt. Unsere Frage war, ob wir mit weniger Mikrofonen aufnehmen können würden als in der Laeiszhalle. Wir hatten vor der Aufnahme der Brahms-Sinfonien nur zweimal Gelegenheit, Proben des Orchesters im Saal zu begleiten. Beim ersten Probentag des NDR-Elbphilharmonie-Orchesters im Großen Saal konnten wir nur Signalwege prüfen. Die erste längere Probenphase im Oktober 2016 nutzten wir, um eine optimale Position für unser Hauptmikrofonsystem (Stereo mit zwei Kugeln und Surround mit einer Niere als Center und anfangs einem Hamasaki-Square aus vier Achten) zu finden.

Die Phänomenale Durchsichtigkeit der Elbphilharmonie

Das erwies sich als schwieriger als gedacht. Die Durchsichtigkeit des Saales ist phänomenal, durch die Geometrie und die Positionierung der Bühne tief in der Mitte ist es aber schwierig, die Register eines Orchesters zu balancieren. Die höheren Register sind sehr konturiert, während die tieferen Register weniger klar zeichnen. Diesen Eindruck hatten wir auch über unsere Hauptmikrofone (als Hauptkugeln haben wir DPA 4006 TL, Neumann KM 130 und KM 133 sowie Schoeps MK 2 Serie ausprobiert und uns für die DPA entschieden).

Violinen, Flöten und Oboen reagierten extrem empfindlich auf Veränderung von Abstand und Höhe, während es uns kaum gelang, bei Celli, Kontrabässen und Fagotten den „first attack“ hörbar zu machen. Die Positionierung der Hörner ist auch heikel. Aufnahmen nur mit Hauptmikrofonen ohne Stützmikrofone sind illusorisch: Bereits kleine Veränderungen im Orchester-Aufbau führen dazu, dass sich das Klangbild ändert. Für die Produktion der Brahms-Sinfonien im November 2016 waren fünf Tage angesetzt. Leider war Thomas Hengelbrock erkrankt und sagte die ersten beiden Produktionstage ab. So mussten wir sofort mit der Produktion beginnen – ohne die Möglichkeit, Anzahl und Position der Stützen oder die Position der Hauptmikrofone verändern zu können.

Simuliertes Publikum

Ziel war es, ohne künstlichen Hall (Lexicon 960S und 96S) zu arbeiten, um authentischen Saalklang auf die CD zu bannen. Das haben wir bis auf etwas Hall auf den Hornstützen durchgehalten, obwohl wir bei der Aufnahme und besonders ich in der Nachbearbeitung zunehmend unglücklicher damit wurden. Das Problem ist nicht, dass der Saal zu wenig oder zu kurzen Hall liefert.

Im Gegenteil lassen wir bei Aufnahmen im leeren Saal einen Teil der Akustikbanner hochfahren, um die Dämpfung durch das Publikum zu simulieren. Dem Hall des Saales scheint aber das kleine lokale Maximum zwischen zwei und drei Kilohertz zu fehlen, das in Sälen wie den Musikverein in Wien oder dem Concertgebouw in Amsterdam für „Glanz“ sorgt, wie man ihn auch in der Suntory Hall oder anderen Sälen von Yasuhisa Toyota hört. Für die zweite CD, die wir im Dezember 2016 in der Elbphilharmonie produziert haben (Igor Strawinsky: „Le Sacre du Printemps“, Alpha), wurde wieder auf künstlichen Hall zurückgegriffen.

Positive Entwicklung

Bei der Aufnahme der 7. Sinfonie von Anton Bruckner kamen uns diese Erkenntnisse zugute. Entscheidend scheint mir auch die sehr positive Entwicklung zu sein, die das NDR-Elbphilharmonie-Orchester im Umgang mit dem Saal gemacht hat. Es hat mit Thomas Hengelbrock und Christoph von Dohnányi, vor allem aber mit seinem aktuellem Chefdirigenten Alan Gilbert sehr viel daran gearbeitet, wie man Klang, Artikulation und Balance optimiert. Die Unsicherheit durch die von einigen als gnadenlos bezeichnete Durchsichtigkeit der Akustik und Probleme mit dem Kontakt auf der Bühne (fehlende Reflektionsflächen) ist dem Wissen, wie mit den Schwierigkeiten umzugehen ist, gewichen. Das Versprechen von Herrn Toyota hinsichtlich des Bühnenbodens scheint eingetreten zu sein: der Boden hat über vier Jahre an Restfeuchtigkeit verloren und ist nun dort, wo ihn Toyota haben wollte.

Elbphilharmonie
Bilder: Sony Classical

Wie geht man als Tonmeister die Aufgabe an, einen großen Klangkörper in einem Saal aufzunehmen, der kaum Fehler verzeiht?

Die Elbphilharmonie ist eine besondere Herausforderung. Die erste Reaktion wäre ja, weniger Stützen einzusetzen, mit den Hauptmikrofonen weiter weg vom Ensemble zu gehen und zu hoffen, dass sich durch Reflektionen und Nachhall die Fehler verschleiern lassen. Das funktioniert in der Elbphilharmonie nicht. Wir setzen zwei Raummikrofone ein, um den akustischen Abstand variieren zu können (zwei Kugeln, unkorreliert mit einer Basis von vier bis fünf Metern, Abstand zur Bühne etwa sieben Meter, Höhe etwa vier Meter). Das funktioniert bei CD-Produktionen, stellt aber bei Konzertübertragungen ein Problem dar, da sich die Raummikrofone über und vor dem Publikum befinden und jedes Geräusch von dort aufnehmen. Daher haben wir die Position der Hauptmikrofone etwa auf Höhe der Bühnenkante festgelegt und variieren mit der Höhe und mit der Wahl der Grids bei den DPAs.

Alle Stimmen ab der zweigestrichenen Oktave werden vom Saal exponiert, während man um die Klarheit in den Bässen kämpfen muss. Das NDR Elbphilharmonie Orchester hat sich dem hervorragend angepasst. Dadurch, dass die hohen Streicher nun die E-Saite „schonen“, während Celli und Bässe deutlich mehr con attacca spielen, die Hörner dynamisch nachgeben, während Trompeten und Posaunen zulegen, müssen wir mit der Positionierung von Stützmikrofonen reagieren. Um bei den Kontrabässen eine möglichst hohe klangliche Homogenität zu erhalten, bauen wir oft ein drittes Stützmikrofon auf. Hier schwanken wir zwischen Groß- und Kleinmembranmikrofonen (Neumann U87, TLM 103 oder KM 184), wobei wir als Stützen Kleinmembranmikrofone von Neumann (KM 184, KM 143) und Schoeps (MK 22, MK 4) benutzten. Instrumente mit großem Schalldruck (große Trommel), werden mit Großmembranmikrofonen (U87) gestützt.

Entscheidend ist das Feedback

In der Elbphilharmonie ist es wichtig, dem Orchester ein konstruktives Feedback zu geben. Hier muss man als Tonmeister helfen und eingreifen. Wir stellen die Mitschnitte dem Orchester über ein Downloadportal zur Verfügung. Bei hoher Dynamik führt die Akustik des Saales manchmal dazu, dass der Klang zerfällt oder „zumacht“. Lauter und leiser machen können wir in Aufnahmen ja immer, aber den Klang bekommt man damit nicht hin. Insofern erfordert die Elbphilharmonie vom Tonmeister bei Produktionen manchmal, „gegen den Saal zu arbeiten“.

Können Fans in naher Zukunft mit weiteren spannenden Aufnahmen aus der Elbphilharmonie rechnen?

Die Corona-Pandemie hat den Konzert- und Produktionsbetrieb stark beeinträchtigt. Wir haben früh nach Formaten gesucht, wie das Orchester weiter spielen kann. Produktionen waren nur webbasiert zu sehen und hören. Mit Lockerung der Corona-Auflagen haben wir beim Internationalen Musikfest Ende Mai erstmals wieder in der Elbphilharmonie aufgenommen und ab Juni auch Live-Streams und Übertragungen auf NDR Kultur realisieren können, natürlich ohne Publikum. Mit Beginn der neuen Spielzeit sieht das Hygienekonzept Konzerte mit deutlich reduziertem Publikumsanteil vor. Diese Konzerte werden von NDR Kultur live oder als Mitschnitt gesendet. Auf ndr.de/eo, über die NDR EO APP, auf youtube und facebook sind Konzertstreams (video) live und on demand zugänglich. Am ersten Dienstag eines Monats werden Karten in den Verkauf gegeben unter ndr.de/eo, und über die APP erhalten Sie die aktuellen Hinweise.

Mit Sony hatten und haben wir Pläne für Aufnahmen mit großsinfonischem Repertoire, die wegen Corona verschoben wurden. Die Abstandsregeln, die die Musiker*innen auf der Bühne einzuhalten haben, machen es unmöglich, dort ein volles Sinfonieorchester zu platzieren.


Dirk Lüdemann in aller Kürze

Tonmeisterstudium in Detmold von 1992 bis 1997, seit 1994 freier Mitarbeiter beim NDR, seit 1995 bei Syrinx music & media (gegründet von vielen ehemaligen Mitarbeitern von Sony Classical in Hamburg), seit 1997 bei BIS Records AB. Nach dem Studium war Dirk Lüdemann zunächst Freelancer; er machte Aufnahmen für Sony, BMG (Arte nova), Ambitus, Glissando und Berlin Classics. Sei 2000 ist er festangestellter Tonmeister beim Norddeutschen Rundfunk (NDR) im Bereich Orchester, Chor und Konzerte – zunächst in Hannover bei der NDR Radiophilharmonie, dann ab Juli 2002 in Hamburg beim NDR Elbphilharmonie Orchester. Dirk Lüdemann ist verantwortlich für Konzertübertragungen und -aufzeichnungen, Produktionen für Sendungen und CD-Koproduktionen, sowohl mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester und dem NDR Chor als auch mit Kammermusikformationen und Fremd-Ensembles.

 

www.elbphilharmonie.de

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