Hörstoff: Jazz für Wilco-Fans – so nennen Kritiker Jeremy Uddens Musik. Oder: eine „ländliche Version von In A Silent Way“. Dieser Saxofonist erforscht neues Gelände zwischen Jazz, Instrumental-Rock und Folk. Sein „verträumter Roots-Jazz“ versuche, so heißt es, Folk, Country und Rock in die Jazztradition „einzuwickeln“.
Der Ortsname Plainville klingt, als müsse es sich um die Mutter aller Dörfer handeln. In Plainville (Massachusetts) ist Jeremy Udden aufgewachsen. Dort hat er Saxofonspielen und Skateboarden gelernt, dort musizierte er in den Marschkapellen seiner Highschool und in Schüler-Rockbands. Mit 16 Jahren dann entdeckte er den Jazz: „Ich glaube, es war der subversive Punkrocker in mir, der zuerst vom Jazz angezogen wurde.“ Udden spielte Saxofon in einer Punk-Ska-Band namens Big Lick und trat mit 18 ins New England Conservatory in Boston ein. Zu seinen Saxofonlehrern gehörten Jerry Bergonzi und George Garzone. Sieben Jahre lang wirkte er im Either/Orchestra mit, dieser eigenwilligen Bostoner Bigband, und kam viel in der Welt herum: Mittlerer Westen, Europa, Afrika. Schließlich landete er in Shanghai – aber entschied sich dann doch lieber für Brooklyn. Da war er 27.
Plainville macht den Unterschied
Was unterscheidet Jeremy Udden von all den anderen Jazzmusikern im Großraum New York? Die Antwort lautet: Plainville. Das Provinzkaff in Massachusetts steckt einfach tief in ihm selber drin: die Folk- und Countrymusik, eine Jugend mit dem Indie-Rock der Pixies und den Beatles-Platten des Vaters – man spürt das alles in Uddens Musik. „Ich habe mich nicht hingesetzt und gesagt: Ich will alle diese Elemente auf einem Jazzalbum kombinieren. Sondern: Das kommt einfach heraus, wenn ich heute Musik schreibe.“ Deshalb hat er seine Band nach seinem Heimatort benannt: Plainville. Die Musik wirkt zunächst unscheinbar, eher schlicht und elementar – aber Jeremy Udden schreibt hier ein ganz neues Kapitel der Jazzgeschichte. Oder ist es gar kein Jazz mehr? „Es ist nicht Nicht-Jazz“, meint der Boston Phoenix. „Es ist Jazz, weil ich Saxofon spiele“, sagt Jeremy Udden mit einem Augenzwinkern.
If The Past Seems So Bright (Sunnyside, 2011) heißt das zweite Album der Quintettformation Plainville. Die vorherrschende Stimmung ist relaxt und beschaulich, aber auch ungewohnt und merkwürdig. Denn wenn das Schlagzeug nicht überhaupt schweigt, dann liefert es fundamentale, betont schlichte Beats. Für die Gitarren und das Banjo ist Brandon Seabrook zuständig, ein Jugendfreund von Jeremy Udden: Der Saitenmann schiebt die Musik abwechselnd in die rockige oder die folkige Richtung. Sein Gegenspieler: der Keyboarder Pete Rende, der mit E-Piano, Synthesizer oder Harmonium oft genau in die andere Richtung zielt. Jeremy Uddens sanftes Altsaxofon dagegen fungiert als der „Sänger“ in dieser Band – die Melodien entwickeln sich betont lyrisch, hochvirtuose Jazzkapriolen bleiben aus. „Stilistisch beginnt jeder Song mit Musik, die man nicht Jazz nennen würde“, sagt Udden. „Aber mein Spiel kommt aus meinen Jazzwurzeln, und es ist eine echte Herausforderung, in diesen einfachen Songs als Saxofonist seine eigene Stimme zu finden.“
Echter Hörstoff: Virtuose Bläsergeflechte
Die melodische Beweglichkeit und gedämpfte Dynamik seines Spiels hat Udden häufig schon Vergleiche mit dem Cool-Altisten Lee Konitz eingebracht. Konitz, Paul Desmond oder Lester Young gehören in der Tat zu seinen stilistischen Vorbildern. Sehr deutlich wird das bei Hush Point, einem Quartett, das er zusammen mit dem 30 Jahre älteren Trompeter John McNeil leitet, einem Veteranen des Bop-Revivals der späten 1970er Jahre. Das Quartett agiert ohne Klavier, und der Drummer beschränkt sich auf die Brushes. Virtuose Bläsergeflechte, spontaner Kontrapunkt und swingende Polytonalität prägen den Sound der Band. Die vier spielen avantgardistischen Cool Jazz des 21. Jahrhunderts, ihr Debütalbum Hush Point (Sunnyside, 2013) beginnt mit der Neudeutung eines Jimmy-Giuffre-Stücks von 1955. „Durch Jeremys Saxofonsound und seine Ideen kristallisierte sich unsere Richtung heraus“, sagt John McNeil. „Es gibt immer Logik in seinem Improvisieren, er hängt nicht einfach Phrase an Phrase.“
Inzwischen erschien schon das dritte Album dieses konkurrenzlos kühlen Quartetts.
Jeremy Udden ist ein ausgesprochener Teamplayer. Statt eine Karriere unter eigenem Namen zu verfolgen, initiiert er lieber noch mehr kollektive Bandprojekte – sie heißen Sketches, New Old Timers, Torchsongs. Während eines längeren Aufenthalts in Paris im Jahr 2012 sah er sich ebenfalls nach Mitstreitern um und fand den französischen Bassisten Nicolas Moreaux – zusammen stellten die beiden The Belleville Project (Sunnyside, 2015) auf die Beine.
Französische Inspitation
Belleville ist das Künstlerviertel in Paris, wo die Aufnahmen entstanden – aber natürlich erinnert der Name auch an Uddens Zentralprojekt Plainville. Das Belleville Project bereichert die Sprache von Plainville um französische Inspirationen – Spurenelemente von Musette-Walzern, Mittelalter und Filmmusik. Man hört auch ein gackerndes Banjo, ein brummendes Harmonium oder glöckelnde Spielzeugklaviere. Die Grooves sind überwiegend sanft und von einlullender, hypnotischer Kraft – ein stiller Alte-Welt-Zauber schwebt über dieser Musik. Und wieder entführt Jeremy Uddens Altsaxofon den Hörer – und den Jazz – auf ganz andere Terrains.