Bis zur letzten Note
Meine Großmutter ist vor einem Jahr gestorben. Sie wurde 98 Jahre alt, die letzten Jahre waren kein Spaß.
Das vorletzte Jahr verbrachte sie im Fernsehsessel, ohne fernzusehen, das letzte im Bett. Die Augen waren trübe, lesen, ihre große Leidenschaft, das ging nicht mehr. Jedes Wochenende fuhr ich raus, quer durch die Stadt, parkte vorm Mehrparteienmietshaus, schloss die Tür zum Treppenhaus auf, atmete den vertrauten Geruch von Bohnerwachs, Alte-Leute-Wohnungen und vergangener Tage. Seit ich denken kann, hat meine Oma hier gewohnt. Ich verbrachte die Frühjahrsferien bei ihr, Teile der Sommerferien, die Herbstferien. Saß auf dem Teppich im früheren Kinderzimmer meiner Tante und las die arg zerfledderten Donald Duck-Hefte von Carl Barks und die gesammelten Werke der Science-Fiction-Serie Storm. Meine Großmutter wurschtelte dabei durch die Wohnung, bereitete Saure Suppe oder Matjesstippe zu, und nicht selten setzte sie sich ans Klavier. „Omi, ‚Hoch auf dem gelben Wagen‘!“ – nie wurde ich enttäuscht.
Worüber unterhält man sich mit einem Menschen, der in der Kulisse seines Lebens ans Bett gefesselt daliegt? Der nichts weiter erlebt außer die Besuche der Pflegekräfte, fünf Mal am Tag für fünf Minuten? Ich schaltete in den Plappermodus, erzählte von den Fußballspielen der Urenkelinnen, und natürlich vom Klavierspiel der Älteren, die auf dem Klavier meiner Großmutter übte. Das hatten wir schon ein paar Jahre zuvor übernehmen dürfen, ein Klavierstimmer freute sich über den Auftrag seines Lebens. Meine Großmutter aber, in ihren letzten Monaten, hielt sich an ihrer Mundharmonika fest. Die lag neben dem Schnabelbecher mit dem dünnen Apfelsaft, und aus alter Gewohnheit rief ich immer wieder einmal: „Omi, ‚Hoch auf dem Gelben Wagen‘!“ Das waren die Momente, da wieder Licht in den Augen leuchtete, so, als würde der Vorhang nach einer Aufführung, da sich alle schon drei Mal verbeugt haben und das Licht im Saal bereits leuchtet, noch einmal heben und die Hauptdarstellerin würde, ganz ohne Schauspielerei, dem Publikum eine Träne der gerührten Freude schenken. Leider hatte meine Großmutter keine Luft mehr in den Lungen. „Hoch auf dem gelben Wagen“ war zu einer einzelnen Note reduziert, zu einem dünnen Ton, der sich mühsam aus der Mundharmonika quälte. Begleitet aber von einem Lächeln auf den Lippen.
Wie komme ich jetzt darauf? Ich bin eben aus dem Auto gestiegen, das ein guter Freund lenkte. Wir waren für ein Männer-Wochenende ins Wochenendhaus gefahren, und auf der Rückfahrt erzählte er von seinem Vater. Der Vater ist dement, recht weit fortgeschritten. Der Vater lebt noch mit der Mutter, der es auch nicht gut geht, in einer Wohnung. Schwierige Verhältnisse, alles nicht leicht. Der Freund macht sich Sorgen, scheitert aber regelmäßig mit Vorschlägen für etwas Unterstützung im Alltag. Nun klingelte neulich sein Telefon. Das Festnetztelefon, auf dem nur noch die Mutter anruft. Die war es aber nicht. Es war sein Vater. Er wollte seinem Sohn zum Geburtstag gratulieren. Der war zwar schon Monate vorbei, doch was soll’s. Ein getragener Ton klang aus dem Hörer. Der Vater hatte seine Mundharmonika entdeckt, ein Instrument, mit dem er früher gutgelaunt Frau und Kinder an den Rand der Verzweiflung bringen konnte. 30 Jahre lang hatte er sie nicht gespielt – das aber vergessen. Was er nicht vergessen hatte: Cat Stevens’ „Father and Son“. Zerzaust, schmal, nicht jede Note an ihrem Platz. Ein wackeliges Geburtstagsständchen, am falschen Tag, aus der Ferne des Ruhrpotts nach Hamburg mit dünnem Atem in den Telefonhörer geblasen. Dem Freund stockte die Stimme, da er davon erzählte. Der Vorhang, er hatte sich noch einmal gehoben.
PS: Unnützes Wissen, Teil 37
“It’s not time to make a change, just relax, take it easy; you’re still young, that’s your fault; there’s so much you have to know, find a girl and settle down, if you want, you can marry; Look at me, I am old, but I’m happy; (…) All the times that I’ve cried, keeping all the things I knew inside, it’s hard; but it’s harder to ignore it, if they were right, I’d agree, but it’s them they know, not me; now there’s a way, and I know, that I have to go away, I know I have to go…”