Heinz Rudolf Kunze im FIDELITY Interview
Seit mehr als 40 Jahren prägt Heinz Rudolf Kunze die deutsche Musiklandschaft. „Dein ist mein ganzes Herz“ gehört zu den großen Hymnen der Achtzigerjahre. Gerade hat er sein neues Album Können vor Lachen veröffentlicht. Im Gespräch mit FIDELITY erzählt Kunze, warum er gerne zugleich wie Rammstein und ein irischer Folkmusiker klingt, was er soundmäßig mit Bruce Springsteen gemein hat – und wie schwer es ist, ein gutes Liebeslied zu schreiben.
Dienstagnachmittag in Hamburg. Die Sonne scheint, es ist schwülwarm. Auf der Alster trainieren Ruderer, dazwischen dümpeln schläfrige Schwäne. Im Hotel Atlantic treffen wir eine Legende der deutschen Pop- und Rockmusik. Nicht Udo Lindenberg, der hier als Langzeitgast im obersten Stockwerk residiert. Sondern Heinz Rudolf Kunze, der FIDELITY im Hotelrestaurant zum Gespräch empfängt. Der Anlass ist die Veröffentlichung seines 39. Studioalbums. Ein Detail fällt sofort ins Auge …
FIDELITY: Herr Kunze, eins muss ich Sie direkt fragen: Draußen bricht sich der Sommer Bahn, Sie aber sitzen hier drinnen mit zwei Schals um den Hals. Sie tragen auf fast jedem Foto aus den letzten 40 Jahren einen Schal. Schützen Sie so Ihre Stimme?
Heinz Rudolf Kunze: Ach … das hat mich tatsächlich noch nie jemand gefragt. Und ich mich selbst auch noch nicht. Mit der Stimme hat es jedenfalls nichts zu tun. Ich vermute, ich könnte auch ohne Schal singen. (lacht) Ich mag wohl einfach das Gefühl, am Hals etwas Kuscheliges und Schützendes zu haben. Ist vielleicht meine kleine Macke.
Wie viele Schals haben Sie denn im Kleiderschrank?
Ganz schön viele.
Glaubt man Wikipedia, haben Sie auch viele unveröffentlichte Songs im Schrank. 6000, neben Ihrem Katalog an 500 veröffentlichten Stücken.
Es sind inzwischen sogar 10 000. Haben wir gerade erst nachrecherchiert.
Keine Angst, dass Ihnen die Wörter ausgehen?
Doch. Diese Angst habe ich nach jedem Text. Jede Zeile ist ein neues Abenteuer. So werde ich einen fürchterlich großen Berg an Songtexten hinterlassen, die nie zu Musik verarbeitet wurden.
Immerhin veröffentlichten Sie mit Können vor Lachen gerade Studioalbum 39. Eine stolze Zahl.
Wenn man meine Alben mit der Band Räuberzivil mitzählt, kommen sogar noch einige mehr dazu. Bob Dylan überhole ich auf jeden Fall noch.
Lustig, dass Sie das sagen, den Vergleich wollte ich gerade ziehen. Sie sind Ihrem Ziel nah: Dylan steht ebenfalls bei 39 Studioalben.
Tatsächlich? Na, dann haben wir es ja bald … (lacht)
Wie hat sich Ihr Sound im Laufe der Jahre verändert, vom Album Nummer eins, Reine Nervensache, im Jahr 1981, bis zu Können vor Lachen?
In aller Unbescheidenheit: Es gibt keinen Kollegen in der deutschsprachigen Rockmusik, der so viel ausprobiert hat wie ich. Es gibt keine Stilistik in der Popularmusik, die ich nicht zumindest mal gestreift hätte. Von Irish Folk über Rockabilly, Trance und Elektro bis hin zu Heavy Metal.
Jetzt muss ich fragen: Tatsächlich?
Das hängt mit den Texten zusammen. Meine Texte sind so unterschiedlich, dass sie mich verführen und mich musikalisch mitunter weit treiben lassen. Ich habe mal einen Song veröffentlicht, der elf Minuten lang nur auf einem Akkord herumreitet. „Die Peitschen“. War dann manchem Fan doch zu viel. Da hörte ich dann: ‚Alter, mach mal wieder einen einfachen Song.‘
Der erste Track des neuen Albums, „Halt mich fest“, startet wie ein Hiphop-Song. Dann kommen verzerrte Gitarren hinzu. Und beim Refrain dachte ich …
… „da ist er ja endlich“?!
Genau, dieser klassische Kunze-Sound. Das weckt Erinnerungen an Ihren größten Hit, „Dein ist mein ganzes Herz“ von 1985.
Wenn man so viele Platten macht, dann gibt es Elemente, die wieder auftauchen. Es wäre ja auch nicht wünschenswert, wenn man mich gar nicht erkennt. Als Künstler will man ja, dass die Leute etwas mit einem verbinden. Springsteen erkennt man auch nach den ersten drei Tönen.
Der Song hat Sie zum Popstar gemacht. Ein gewisses Achtziger-Flair gehört bis heute zum Kunze-Markenkern, oder?
Für meine musikalische Prägung waren eher die Sechziger- und Siebzigerjahre verantwortlich. Da war ich jung. Aber ich bin in den Achtzigerjahren durchgestartet. Klar, dass man Elemente dieser Zeit dann auch mit mir und meiner Musik verbindet.
Wie entsteht bei Ihnen ein neues Album? Setzen Sie sich mit der Gitarre hin und dann geht’s los?
Oder ich setze mich ans Klavier. Die Texte aber entstehen immer vor der Musik. Früher habe ich alles selbst eingespielt und erst dann an die Crew weitergegeben. Da hat mir meine Band irgendwann gesagt, dass ich sie damit ganz schön einenge. Deshalb starte ich nun nur mit meiner Stimme und Gitarre oder Klavier. Heute hat auch mein Produzent Udo Rinklin großen Anteil am Sound. Er hat auch alle Bässe auf der neuen Platte eingespielt. Wir probieren vieles aus, nichts ist tabu. So entwickeln sich Songs ganz anders als noch bei den ersten Demos.
Welcher Song hat sich denn am weitesten vom ersten Demo-Tape entfernt?
Ganz klar: „Igor“. Das war am Anfang eine Art Pfadfinder-Song, getragen von einer Wandergitarre und meiner Stimme. Und dann haben wir im Studio daraus eine Simple-Minds-Stadionversion gebastelt. Mit einer breiten, dominanten Atmo-Gitarre, die mich umhaut. Gespielt hat sie Jay Stapley, den ich mal bei Westernhagen backstage kennengelernt habe.
Stapley hat auch schon mit Roger Waters und Mike Oldfield gespielt.
Und ich bin seit hundert Jahren sein größter Fan. Dass er auf meiner Platte mitspielt, bedeutet mir sehr viel.
„Igor“ ist ein Song über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, in dem Sie Wladimir Putin persönlich adressieren. „Wie geht es Ihnen, Herr Putin? Wie schlafen Sie bei Nacht?“ Das ist weit weg von „Dein ist mein ganzes Herz“. Was ist einfacher zu schreiben, ein Liebeslied oder ein politischer Song?
Ich würde sagen, Texte zu öffentlichen Themen schreiben sich einfacher. Ein authentisches Lied über Herzschmerz? Viel schwieriger. Es gibt so viele banale, scheußliche Liebeslieder. Sich über Missstände in der Welt zu beschweren, ist einfacher. Wenngleich natürlich auch komplex.
Inwiefern?
Sich in Binsenweisheiten wie „Krieg ist böse, Frieden ist gut“ zu erschöpfen, ist eine Beleidigung fürs Ohr. Man muss mit anschaulichen Figuren zeigen, wie die kleinen Menschen das ausbluten, was die Großen verbrechen. Ich musste mir nur zwei Fotos aus dem Kriegsgebiet anschauen. Das reichte, um die Zeilen zu schreiben.
Klanglich hat mich der letzte Song des Albums, „Leuchtturm“, am meisten überrascht. Synthie-Sounds, eine schräge Kirchenorgel, dann diese Echolot-Geräusche wie aus Doldingers Soundtrack zu Das Boot. Und plötzlich: finstere Gitarren …
Meine kleine Portion Rammstein.
Wie passt das in die Welt des Heinz Rudolf Kunze?
Hervorragend. Ich habe ja schon früher gern mit wilden Sounds und atonalen Gitarren herumexperimentiert. So gesehen ist der Song ein klassischer Kunze.
Es geht darin um einen Leuchtturmwärter, der seinen Job macht, obwohl er nicht mehr gebraucht wird. Sie machen Ihren Job jetzt ja auch schon seit mehr als 40 Jahren.
Was soll ich sagen? Ich suhle mich einfach gern wohlig in Selbstmitleid.
Sie seien ein großer Black-Sabbath-Fan, heißt es. Wäre das vielleicht was für Album Nr. 40? Kunze goes Metal?
Eher nicht. Ich versuche ja immer, meinen Texten gerecht zu werden. Deshalb mache ich so vielfältige Songs. Mich auf ein Genre festzulegen, ist quasi nicht möglich. Die Spannweite ist ja auch auf Können vor Lachen sehr groß, vom Folksong bis zu den Rammstein-artigen Klängen.
Haben Sie nie überlegt, ein klares Genre-Album einzuspielen?
Ich schaff’ das einfach nicht. Ich träume schon mein ganzes Leben davon, ein monochromes Album zu veröffentlichen. Ein Album wie von John Lee Hooker. Wo jedes Lied gleich klingt – aber immer gut. Irgendwie aber weiche ich dem aus. Das ist vielleicht mein letzter verbliebener Lebenstraum.
Ein Kollege aus dem Büro träumt davon, endlich zu verstehen, was Sie da im Song „Schutt und Asche“ aus dem Jahr 1988 besingen. „Die Hölle schweigt dich tot. Hau dir ein Loch hinein. Steck Post in eine Flasche und wirf sie in das Meer aus Schutt und Asche.“ Ich soll Sie also fragen: Was bedeutet das?
Weiß ich nicht. Da geht es mir wie Ihrem Kollegen.
Sie wissen nicht, was Sie da singen?
Das Thema kenne ich natürlich schon. Es ist ein Lied über Irrsinn, Verlorenheit und Verzweiflung. Über die Sehnsucht nach Kontaktaufnahme, die wahrscheinlich scheitern wird. Ich spiele da mit dem Bild von Franz Kafka: Literatur soll die Axt für das gefrorene Meer in uns sein. Das war der Ausgangspunkt. Die zitierten Zeilen, die kamen mir so in den Sinn. Auch wenn ich sie selbst bis heute nicht ganz verstehe.
Sie haben Germanistik und Philosophie studiert. Ist es schwierig für Sie, einfache Texte zu schreiben und sich dabei nicht zu sehr in der Schönheit der Sprache zu verlieren?
Beides hat ja seine Daseinsberechtigung. Das ist wie in der Malerei. Es gibt Bilder, die aussehen wie Fotos. Und es gibt die Werke von Chagall, da fliegt dann ein Pferd übers Dach. Mich persönlich begeistern Lieder von anderen Künstlern, die ich nie vollständig begreife. Wenn es Ihrem Kollegen bei „Schutt und Asche“ so geht, freut mich das.
Heinz Rudolf Kunze, 66, machte 1980 bei einem Pop-Nachwuchs-Festival in Würzburg erstmals auf sich aufmerksam, da war er Anfang zwanzig. Fünf Jahre später landete der gebürtige Ostwestfale mit „Dein ist mein ganzes Herz“ seinen bis heute größten Hit. Kunze verkaufte bisher insgesamt mehr als vier Millionen Tonträger. Können vor Lachen ist sein 39. Studioalbum. Anfang 2024 geht er mit dem neuen Album auf Deutschlandtournee.