Aus dem Kino ins traute Heim: Dass Hörner nicht nur zur Massenbeschallung taugen, beweist eine einzigartige Installation von US-amerikanischem Vintage-Audio. Ein Besuch im Norden.
Hamburg, Innenstadtlage, zur Außenalster ist es ein kurzer Spaziergang. Hinter weiß getünchten Altbaumauern steht eine Musikanlage, wie es sie in Deutschland vermutlich kein zweites Mal gibt. Auch weltweit findet sich Vergleichbares kaum, Eingeweihte kennen Standorte in den USA, China, Japan oder Südkorea. Hamburg also. Hier hört “Mr. WE” mit Kinolautsprechern Musik. Mit keinen gewöhnlichen: Gebaut wurden sie, genauso wie die dazugehörigen Röhrenverstärker, in den 1920er und 30er Jahren in den USA zum Einsatz in den damals neu aufkommenden Tonfilmkinos. Der Hersteller Western Electric vermietete sie an die Kinobetreiber, niemals waren die riesenhaften Hörner und mannshohen Verstärkergestelle in Privatbesitz, geschweige denn -einsatz. Und doch geschah es in den 1970er Jahren, möglicherweise auch schon früher, dass in gewissen Kreisen die Kunde von den längst ausgemusterten Dinosauriern der elektrodynamischen Musikwiedergabe die Runde machte. So begaben sich die Pioniere auf die Suche, wurden in alten Kinos fündig, in Sporthallen und Scheunen. Speditionen bekamen zu tun. Vieles ging erstaunlicherweise nach Asien, besonders nach Japan … aber das wäre wieder eine andere Geschichte.
Bei “Mr. WE” wird der Gast zunächst in den mittleren von drei großen, untereinander verbundenen Räumen geleitet. Die Einrichtung ist sparsam klassisch-modern, ein Pärchen gut hüfthoher Hornlautsprecher des Typs Altec Voice of the Theatre fällt ins Auge. Aus dem linken Zimmer dringt mächtig und dunkel Johnny Cash durch die geschlossene Tür – es ist Besuch da, Vater und Sohn auf dem Weg zum Horn, auch sie folgen einer Einladung. Also nach rechts ins Büro. Dort, direkt vor der Wand, erhöht auf einem selbst gebauten Bass-Sockel platziert: ein Doppelhorn Western Electric 16A – Metallkonstruktion, extraflache Geometrie, damit es hinter Kinoleinwände passt. In der linken Zimmerecke: ein übermannshohes Gestell mit digitalen Zuspielern (der Hausherr ist da undogmatisch) und Netzteilen für die Elektromagnete der fremderregten Lautsprecherchassis. In der rechten Zimmerecke: Ein kleineres Gestell mit modifizierten WE-Mikrofonverstärkermodulen WE22D, daneben eine analoge Tonquelle, ein englischer Garrard-Plattenspieler des Typs 301 mit Reibradantrieb, eingebaut in eine hübsche neue Holzzarge. Das Horn zielt auf einen keine drei Meter davor stehenden Eames-Chair. Neben diesem in Griffweite finden sich zwei weitere analoge Zuspieler, Telefunken-Magnetophone M5, einmal als röhrenbestückte Mono-Version, einmal als transistorisierter Stereo-Typ.
Was die WE-Aficionados so magisch anzieht? Sicher die schiere Physis, der Dampfmaschinen- Männerspielzeug-Faktor. Ein klein wenig wohl auch ein latentes Manufactum-Syndrom – das Faszinosum von Musikanlagen in „Gründerzeitqualität“. Unbedingt der technische Aspekt: Die Western-Electric-Ingenieure bedienten sich beim Besten und Teuersten ihrer Zeit, scheuten weder Kosten noch Mühen, mit ihren fremderregten Treibern und komplexen Hornkonstruktionen den Stand der Dinge zu markieren. Michael Chung etwa, der weltweit die zweitgrößte WE-Sammlung hütet, bekommt bei jeder Erwähnung des „rocket engine“ aus ultraleichter Aluminium-Membran und bärenstarkem Feldspulenmagneten in den WE-Treibern leuchtende Augen. Zudem sind die Komponenten wie für die Ewigkeit gebaut, haben die größeren Horntreiber nicht umsonst gusseiserne Griffe spendiert bekommen.
Schließlich: der Klang. Darin sind sich nun alle einig. Der Klang von Western Electric der 1920er und 1930er Jahre stellt für die Fans das Nonplusultra an emotionaler Ansprache durch reproduzierte Musik dar. Was genau da passiert – schwer zu beurteilen. Existierende WE-Anlagen mögen sich in den verwendeten Hörnern und Horntreibern gleichen, zu viele andere Komponenten variieren aber, angefangen von den Netzteilen der Feldspulentreiber über deren elektrische Parameter bis zu den verwendeten Verstärkern und dem komplizierten Kapitel Aufstellung und Einrichtung. Der eine erweitert die Bandbreite der naturgemäß auf breite Mitteltonwiedergabe beschränkten Hörner durch Subwoofer und Hochtöner, der andere schwelgt im Frequenzbereich von 100 bis 6000 Hz. Man muss es wohl selbst erlebt haben.
Unterdessen haben die Gäste ihre Hörsitzung beendet, und ich darf in den linken Raum. Dieser ist deutlich größer als der vorherige. Und das ist auch gut so. Zwei 15A-Schneckenhörner an der Fensterseite halten einen guten Teil des Tageslichts ab. Auch sie stehen auf selbst gebauten Basspodesten und sind, wie auch schon das WE16A nebenan, durch separate Hochtöner ergänzt. Die Musik kommt auch hier vorzugsweise von einem Plattenspieler des Typs Garrard 301, den gelegentlichen CD-Genuss verantwortet eine Sony PlayStation der besonders wohlklingenden ersten Generation. Ein „Stereomessdecoder“ vulgo UKW-Empfänger von Rohde & Schwarz hält die Fahne für Made in Germany hoch. Die Verstärkung obliegt zwei imposanten Türmen aus WE-Röhrenelektronik. Beide Anlagen, so stellt sich bald heraus, sind keine hundertprozentigen WE-Ketten. Eine solche heutzutage auf die Beine zu stellen, sei ein fruchtloses Unterfangen, so “Mr. WE”. Die Unmengen authentischer Einzelteile, die es dafür bräuchte, sind in alle Winde zerstreut und werden, wenn überhaupt, dann nur zu prohibitiven Preisen gehandelt. Aber glücklicherweise haben erstens auch andere Mütter schöne Töchter und werden zweitens immer mehr WE-Teile wieder nachgebaut. Die Tieftonerweiterungen aus eigener Fertigung wurden schon erwähnt. Auch die Hochtöner kommen hier nicht von Western Electric, beim 16A ist ein Pärchen Jensen- Hörnchen im Einsatz, die Tweeter der 15A-Schnecken sind japanische Repliken des originalen WE597A von GIP. Die 16A selbst stammen aus der Werkstatt eines kompetenten italienischen Schreiners namens Aldo (mehr unter www. audioanthology.com), dessen Hornrepliken seit geraumer Zeit einen amtlichen Ruf in der Szene genießen. Angeschlossen sind sie wiederum an originale WE555-Treiber.
Der Klang beider Installationen ist durchaus geeignet, sich von nun an als angefixt zu betrachten. Das intime Têteà-Tête mit den für Kinosäle konzipierten Hörnern konfrontiert den Hörer mit einer ultradirekten, besonders im Fall des metallenen 16A-Horns fast intravenösen Klangverabreichung, die mit üblichem High End nichts mehr gemein hat. Ja, beide Hörner verfärben, doch das zu kritisieren wäre, als bemängelte man als Familien-Van-Fahrer die harte Federung in einem Morgan +8. Der metallische Biss des 16A führt bei Jazz-Platten, aber auch bei klassischer Musik zu einem packenden Realismus. Man meint bisweilen, bis ans andere Ende des Horns zu den Musikern höchstselbst durchzuhören. Die 15A klingen dagegen wärmer, ausgewogener und können auch „Referenzaufnahmen“, bei denen tonale Ausgewogenheit im Vordergrund steht, ansprechend interpretieren. Mir persönlich hat tatsächlich die kompromisslose Rasanz des 16A besser gefallen – ein klarer Sieg des Bauchs gegen den Kopf.
Der Hausherr rät ab: Einen ernsthaften Einstieg in die WE-Thematik empfiehlt er nur leidensfähigen Zeitgenossen. Er selbst hat seinem Hobby Jahrzehnte gewidmet, viel Geld ausgegeben, noch mehr Zeit in elektrische Tüftelei und mechanische Feinstabstimmung investiert, sich auf die Weise ein umfangreiches Fachwissen erworben, ohne das aber, so sein dringender Rat, befriedigende akustische Resultate nicht zu erreichen seien. Stimmt, jetzt fällt es mir auf: Das Wörtchen „modifiziert“ taucht in seiner Beschreibung der zahlreichen Anlagenkomponenten in jedem zweiten Satz auf. Was aber wäre das Leben ohne eine Lebensaufgabe? Ich bin jedenfalls spätestens jetzt dem Hornprinzip verfallen. Es muss ja nichts Antikes sein. An erster Stelle steht ohnehin: das 60-Quadratmeter-Wohnzimmer. Alles Weitere wird sich schon ergeben.