Entscheidet die Hautfarbe, ob Musik „black“ oder „white“ klingt?
War Mose Allison (1927–2016) ein schwarzer Weißer oder ein weißer Afroamerikaner? Wurde dieser Cool-Jazz-Pianist und Sänger bei der Geburt in den Mississippi-Sümpfen mit dem Delta-Blues-Virus infiziert? Warum coverten schwarze und weiße Rocker seine „Parchman Farm“, obwohl farbige Blues-Promis wie Bukka White oder Son House tatsächlich in diesem berüchtigten Zuchthaus gesessen hatten, bevor sie einen Song über ihre Knast-Erlebnisse schrieben? – Zumindest die letzte Frage beantwortet seine eigene Interpretation auf I’m Not Talkin’ – The Song Stylings Of Mose Allison 1957–1971, denn treffender als mit Allisons betont unbluesigem Gesang lassen sich die Gefühle eines Knackis kaum darstellen. Diese Compilation zeigt vor allem auch, warum The Who („Young Man’s Blues“) und andere britische Mods den Pianisten und Singer-Songwriter Mose Allison verehrten.
Einer seiner größten Fans ist Georgie Fame. Weil 1964 kein BBC-Deejay und nicht einmal Radio Luxemburg die erste Fame-Platte spielen wollte, gründete sein Manager den Piratensender Radio Caroline, der auf einem Schiff außerhalb der Drei-Meilen-Zone vor der englischen Küste stationiert war. Aus dieser Quelle schöpfte Swinging London die Inspiration für den wöchentlichen Vinyl-Einkaufszettel. Während das „Yeah Yeah Yeah“ der Beatles immer noch ein Erfolgsmaßstab war, sang Georgie Fame aufreizend cool dagegen an: „Yeh Yeh“ – dieses leichtgängige Latin-Soul-Tanzliedchen klang eigentlich viel zu ausgefeilt-perfekt arrangiert für die vorderen Chartpositionen und wurde trotzdem ein Bestseller.
Die Nachfolge-Hits „Get Away“ und vor allem „The Ballad Of Bonnie And Clyde“ festigten seinen Ruf als Nostalgiejazz-Entertainer. Der CD-Sechserpack Survival – A Career Anthology 1963–2015 betont jedoch mehr die Rhythm-’n’-Blues-Qualitäten des Pianisten und brodelnd köchelnden Hammond-Organisten Georgie Fame. Vor allem die Liveaufnahmen aus den 1970ern offenbaren, warum sein Kollege Van Morrison ihn regelmäßig als Arrangeur und Studiomusiker beschäftigte.
Handgemachter Skiffle
Fame und Morrison haben ein gemeinsames Idol: Lonnie Donegan. Der britische Sänger und Gitarrist hatte 1956 mit seiner schnoddrigen Interpretation des US-Folksongs „Rock Island Line“ eine Revolution ausgelöst. Während sich überall in Europa Hausfrauen über die erste Waschmaschine freuten, holten ihre Söhne die Waschbretter von den Schrottplätzen und skiffelten drauflos. Als der Skiffle-Boom längst vom elektrifizierten Rock überrollt worden war, nahm eine Hamburger Combo namens Leinemann 1974–76 mit ihrem Idol zwei LPs auf. Lonnie Donegan und seine Schüler perfektionierten – für einen kommerziellen Erfolg leider zu spät – die feinen Blues- und Country-Nuancen dieser Musik, die bislang von jeglicher Perfektion verschont geblieben war. Die Klangqualität der Doppel-CD Lonnie Donegan Meets Leinemann: Collectors Premium liegt ebenfalls überraschend weit über jenem Niveau, das der heutige Folk- und Jazz-Fan von einer Skiffle-Platte erwarten würde.
Mama Don’t Allow Skiffle Playing Here – Englische Originalaufnahmen von 1954 bis 1957 zwingt zu audiophilen Kompromissen, die sich allerdings lohnen. Dass Mastering-Techniker Robert Hertwig teilweise knisternde Vinylscheiben als Quelle für diese Kompilation verwendete, stört überhaupt nicht, denn seine Repertoireauswahl entpuppt sich als Unterhaltungsmusik im allerbesten Sinne. Außerdem zeigen diese Aufnahmen, wie Lonnie Donegan, Alexis Korner, Chris Barber und andere Skiffle-Brüder den Weg bereiteten für den British-Blues-Boom, für die Stones und Beatles.
Auf Come Together – Black America Sings Lennon & McCartney drehten afroamerikanische SängerInnen 2011 den Spieß um. Diese Oldie-Kompilation hob vor allem die Rock-’n’-Roll-Aspekte hervor. Allein schon wegen „I Saw Her Standing“, mehr geschrien als gesungen von Paul McCartneys Idol Little Richard, lohnt sich die Anschaffung der CD.
Die Beatles in “black”
Für Let It Be – Black America Sings Lennon, McCartney And Harrison wählte Tony Rounce 24 Beispiele aus, die vor allem die soulige Substanz des Beatles-Songbooks offenbaren. Die Supremes, Four Tops und Temptations repräsentieren Detroit. Otis Redding und andere Stax-Künstler grüßen aus Memphis. Ein künstlerischer Höhepunkt wird markiert von Isaac Hayes mit einer zwölf Minuten langen Beinahe-Neukompostion von „Something“. Den Kontrast dazu liefert der völlig durchgeknallte Screamin’ Jay Hawkins, wenn er „A Hard Day’s Night“ im Stil eines Voodoo-Priesters zelebriert.
Als Voodoo-Grandseigneur wird Malcolm John Mac Rebennack alias Dr. John verehrt. In den 1960ern verhexte der weiße Sänger, Gitarrist und Pianist die Jazz- und Pop-Welt mit afrikanischen Grooves, die er in seiner Heimatstadt New Orleans aufgesogen hatte. Dr. John mixte Rhythm ’n’ Blues und Totenkult zum Voodoo-Rock. Er lieferte damit eine rhythmische Basis für den Psychedelic Rock der Hippies. Bruce Springsteen, der Stones-Pianist Chuck Leavell und andere Voodoo-Zauberlehrlinge zollen auf The Musical Mojo Of Dr. John – Celebrating Mac & His Music ihrem Idol Tribut. Sogar die Gospel-Diva Mavis Staples leistet ihren Beitrag zu diesem sündhaften Treiben.
The World’s Greatest Gospel Singer war ein Etikett, das sich die Liturgiemusik-Diva Mahalia Jackson mit Veröffentlichungen bei kleineren Plattenfirmen bereits erarbeitet hatte. Als die Sängerin 1954 zum Major Columbia wechselte, fungierte das Kritikerlob als Titel ihres Label-Debüts. Die Gotteslobpreiserin überzeugte mit sparsamer Begleitung (Orgel, Piano, Gitarre, Bass, Schlagzeug) auch die Blues- und Jazz-Fans von ihren künstlerischen Qualitäten. Nun wurden diese elf Tracks zusammen mit dem 1960er Album The Power And The Glory für eine CD remastert. Mahalia Jackson hatte darauf ein opulentes Orchester, das jeden anderen Solisten unter den Streicherteppich gekehrt hätte, mit ihren frommen Weisen gegen die Studiowand gesungen. Nach der Aufnahmesitzung applaudierten die Musiker dieser Frau, die niemals eine Blues-LP aufgenommen hatte, weil sie wusste: „Wenn du den Blues singst, quält dich anschließend immer noch der Blues. Wenn du Gospel singst, befreist du dich vom Blues.“
Etta James hatte zum Glück keine Angst vor weltlichen Klängen, als sie von Gospelchor auf Bluesband umstieg und die zwanzig Tracks für At Last! 1960–1962 für das Chess-Label in Chicago aufnahm. Die CD mutet dem Hörer zunächst fünf belanglose Schnulzen zu. Doch dann kommt James’ noch unverbraucht klingende Version eines Blues-Evergreens, mit dem sie später identifiziert wurde: „I Just Want To Make Love To You“. Im weiteren Verlauf der CD übertüncht sie mit ihrer ausdrucksstarken Stimme immer wieder unauffällig, aber wirkungsvoll einige vor Schmalz triefende Textpassagen. Kein Wunder, dass die aus Polen eingewanderten Brüder Phil und Leonard Chess diese Souljazz-Röhre unbedingt auf ihrem legendären Rhythm-and-Blues-Label präsentieren wollten.
Mose Allison
I’m Not Talkin’ – The Song Stylings 1957–1971
Label: Ace Records/Soulfood
Format: CD
Georgie Fame
Survival – A Career Anthology 1963–2015
Label: Universal
Format: Box-Set 6 CD
Lonnie Donegan Meets Leinemann
Collectors Premium
Label: MiG/Indigo
Format: 2 CD
Verschiedene Interpret/Innen
Mama Don’t Allow Skiffle Playing Here – Englische Originalaufnahmen von 1954 bis 1957
Label: Bob’s Music/Fenn
Format: CD
Verschiedene Interpret/Innen
Come Together – Black America Sings Lennon & McCartney
Label: Ace Records/Soulfood
Format: CD
Verschiedene Interpret/Innen
Let It Be – Black America Sings Lennon, McCartney And Harrison
Label: Ace Records/Soulfood
Format: CD
Verschiedene Interpret/Innen
The Musical Mojo Of Dr. John – Celebrating Mac & His Music
Label: Concord/Universal
Format: Doppel-CD & DVD
Mahalia Jackson
The World’s Greatest Gospel Singer
Label: Jean-Pierre Leloir Collection/inakustik
Format: CD
Etta James
At Last!
Label: Jean-Pierre Leloir Collection/inakustik
Format: CD