Genesis – The Musical Box
Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack.
Entwickelt wurde dieses Stück von viereinhalb Gitarristen. Der erste war Mike Rutherford: Er hatte die Idee zu dem besonderen Tuning der 12-saitigen Gitarre mit drei auf Fis gestimmten Saiten. Rutherfords Gitarrenpartner war dabei zunächst Anthony Phillips, dann Mick Barnard, schließlich Steve Hackett, der die Einfälle der Vorgänger übernahm und seine eigenen noch hinzufügte. Im Lauf der Zeit wuchs das Stück von einer instrumentalen Etüde namens F Sharp zu einem Proto-Song mit dem Titel „Manipulation“. Den zweiten 12-String-Part übernahm Tony Banks, der Keyboarder und Teilzeitgitarrist von Genesis, und Steve Hackett setzte mit der Gibson Les Paul die Leadstimme darüber – jazzig-sanft, dann machtvoll rockend. Das Geflecht der drei Gitarrenstimmen wurde zum wichtigsten Erkennungssound der Band.
Der Songtext kam natürlich von Peter Gabriel, dem ersten Sänger von Genesis. Englische Romane aus dem 19. Jahrhundert hatten ihn inspiriert. Im Begleittext des Albums Nursery Cryme schmückt Gabriel seinen Songtext mit einer bizarr-makabren Story aus: Die neunjährige Cynthia Jane De Blaise-William hat – lächelnd und graziös – dem achtjährigen Henry beim Croquetspiel (versehentlich?) den Kopf abgeschlagen. (Diese grausige Szene inspirierte das blutige Plattencover.) Später dann entdeckt Cynthia die Spieluhr (englisch: „musical box“) des toten Henry. Als sie sie in Gang setzt, erklingt die Melodie zu „Old King Cole“, einem englischen Kinderreim, und aus einem Geister-Zwischenreich erscheint daraufhin der tote Henry. Und was der zu sagen hat, das singt Peter Gabriel im Song.
Richard Macphail, der Roadie und „sechste Mann“ von Genesis, erinnert sich gut an den Tag, als ihm die Band den ganz neuen Song vorspielte. „Wow, dachte ich. Ich war aus dem Häuschen. Sofort war mir klar: Das ist ein Klassiker! Das Stück war sehr gut aufgebaut. Am Ende drehte das Publikum jedes Mal durch.“ Tatsächlich entwickelt sich „The Musical Box“ als ein großes Crescendo. Es beginnt leise mit dem fragilen Gitarrengeflecht, wird dann immer lauter und rockiger (Peter Gabriel verlangte einen aggressiven Sound à la The Who) und endet nach über zehn Minuten wie ein kraftvoller Sinfoniesatz von Beethoven. Nicht nur spitzt sich das Songdrama zu, auch die Instrumentalteile im Song werden immer gewichtiger und umfangreicher. Die Einleitung dauert 15 Sekunden (die Gitarren), das erste Zwischenspiel 19 Sekunden (mit Flöte dabei), das nächste eine Minute und 13 Sekunden (mit Flöte und Paukenschlägeln), dann 1:24 (rockig mit Orgelriffs und Gitarrensolo), schließlich 1:59 (rockig mit Gitarrensolo, E-Piano und pochendem Stakkato). Philipp Krohn nennt das Stück „eine der anspruchsvollsten Kompositionen der Popmusik“. Für viele Fans ist es der wichtigste Genesis-Song überhaupt.
Es war bei „The Musical Box“, als sich Peter Gabriel erstmals auf der Bühne verkleidet hat. Bei einem Konzertauftritt im September 1972 kam er nach dem letzten, zweiminütigen Instrumentalteil in einer Fuchskopfmaske und einem roten Frauenkleid zurück auf die Bühne. Tony Banks soll entsetzt gewesen sein, aber das Publikum feierte Gabriel. Später setzte er an dieser Stelle eine Alte-Mann-Maske auf – passend zu seiner Rolle. (Henrys Geist altert schnell.) Bis in die 1980er Jahre gehörte „The Musical Box“ zum Liveprogramm von Genesis, häufig als erste Zugabe. Auch die wichtigste Genesis-Revivalband hat sich nach diesem Song benannt.
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