Folkidelity: Fanfare Ciocărlia – Weder Django noch Zigeunerbaron
Ciocărlia, so heißt die Lerche in Rumänien. Fanfare ist eine sehr laute, sehr schnelle Blasmusik. Auf bis zu 200 BPM (beats per minute) bringt es die Gypsy-Brassband Fanfare Ciocărlia.
Der Tontechniker und Musikproduzent Henry Ernst hörte die Bläser und Trommler der Lerchen-Fanfare zum ersten Mal im Oktober 1996 bei einer dörflichen Hochzeitsfeier im Nordosten Rumäniens. „So eine Hochzeit beginnt am Donnerstagabend und endet am Montagmorgen. Die Fanfare schläft nachts dann immer nur vier Stunden.“ Henry Ernst bewunderte die physische Leistung dieser Balkan-Brassband. „Außerdem ihre künstlerische Ausdruckskraft. Ihre Spielfreude. Diese Mischung aus Disziplin und Eigenwilligkeit. Und vor allem dieses Tempo, Tempo, Tempo – das hatte ich vorher bei keinem anderen Ensemble dermaßen intensiv gespürt.“
Er bot den Fanfare-Musikern an, mit ihnen Aufnahmen zu machen. „Ich wollte auf keinen Fall ein Album mit dem Arbeitstitel „Die schönsten Hits der Blasmusik“ produzieren. Auf solch einer Platte wirst du niemals einen Track von uns hören“, garantiert Henry Ernst. Bemerkenswert, dass er „uns“ sagt, wenn er über seine Arbeit mit Fanfare Ciocărlia spricht. „Neben Tontechniker bin ich für die Band Catering-Manager, Versicherungs- und Anlageberater, Reisebüro-Kaufmann, Musikverleger und so weiter. Ab und zu bitten mich die Musiker, ich soll ihnen aus Deutschland etwas mitbringen, das in Osteuropa nicht zu bekommen ist – vor allem nicht in Zece Prăjini.“ Die zwölf Musiker der Fanfare Ciocărlia wohnen in diesem rumänischen Dorf. „Hier werden sogar E-Mails noch mit der Postkutsche gebracht“, witzelt Henry Ernst, als er das Fuhrwerk des Postboten kommen sieht. Die Landstraße, die durch Zece Prăjini führt, ist nicht asphaltiert. Wenn Autos hier durchrasen, wirbeln sie Staub auf. Henry Ernst: „Der rumänische Staat unternimmt nichts für die Zigeunerdörfer. Aber alle Straßen, die zu den Häusern der Fanfare-Musiker abzweigen, sind asphaltiert. Das haben die Hauseigentümer mit Unterstützung von Roma-Organisationen selbst bezahlt. Hier ist die Heimat, aus der die Fanfare Ciocărlia ihre Kraft und Inspiration bezieht.“
Heimat? – „Du willst wissen, warum die Ciocărlia-Musiker sesshaft sind? Du glaubst wohl auch immer noch, dass die Zigeuner von einer Wanderlust getrieben werden. Doch die Zigeuner sind nicht aus reinem Vergnügen ständig auf Achse, sondern weil ihnen bei der Suche nach einer Heimat überall Schwierigkeiten bereitet werden.“ – Zigeuner? Henry Ernst benutzt diese Bezeichnung, obwohl sie als politisch unkorrekt gilt. „Die Ciocărlia-Musiker sind Roma und bezeichnen sich selbst als ‚Tsigan‘, wovon das Wort ‚Zigeuner‘ abgeleitet wurde. Nur weil ‚Zigeuner‘ vor allem in Deutschland zur Herabwürdigung der Roma und anderer Völker missbraucht wurde, muss sich eine authentische Gypsy Brass Band nicht bei jedem Wechsel der politischen Windrichtung eine neue Herkunftsbezeichnung suchen.“
Als Manager der Fanfare Ciocărlia könnte Henry Ernst mit Goldenen Schallplatten, Chart-Platzierungen und anderen Hit-Erfolgen prahlen. Stattdessen rechnet er als Plattenproduzent vor: „Je mehr CDs wir verkaufen, desto mehr Kinder aus Zece Prăjini können studieren.“ Bevor die Musiker ihre Töchter und Söhne nach Bukarest oder auf eine ausländische Universität schicken konnten, organsierte Henry Ernst das internationale Debüt der Fanfare Ciocărlia. „Nach unserem Promo-Auftritt bei der Weltmusik-Messe WOMEX 1997 in Marseille warfen alle Konzertbesucher am Ausgang ihre Visitenkarte in einen Hut und wollten die Band engagieren. Weil ich so flott keinen zweiten Hut besorgen konnte, habe ich einen Putzeimer genommen, aber der war auch sofort voll.“ Fanfare Ciocărlia spielte anschließend in einem Jazz-Club in Kopenhagen, einer Diskothek in Marseille, einer barocken Kirche in Wien sowie auf Folk-Festivals in England und Spanien. „Trotzdem glaubten die Fanfare-Mitglieder noch immer, das Publikum wolle Marschmusik und andere Blaskapelle-Oldies hören. Erst nach ungefähr drei Jahren waren alle zwölf Musiker endgültig davon überzeugt, dass ihre Konzerte ausverkauft sind, weil sie eine höchst eigenständige Zigeunerkultur pflegen.“
Damit öffneten sie zwischen dem Gypsy-Swing eines Django Reinhardt und dem Zigeunerbaron von Johann Strauss die Ohren der Musikwelt für eine bislang wenig bekannte Tsigan-Musik. Vom künstlerischen Wert der Roma-Blasmusik waren jedoch die Mitarbeiter des rumänischen Rundfunks überhaupt nicht überzeugt. „Unsere erste Platte nahmen wir im staatlichen Radio-Studio in Bukarest auf. Der Tontechniker ließ uns mehr als einmal spüren, dass er Zigeunermusik für minderwertig hält. Allein schon deshalb habe ich in Zece Prăjini unser eigenes Studio eingerichtet.“ Sogar das Weltmusik-Plattenlabel Piranha hatte 1998 das Hit-Potenzial von Gypsy Brass Band Music unterschätzt. Für die Debüt-CD Radio Pascani erwartete Piranha um die 30 000 bis 40 000 verkaufte Tonträger. „Die Zahl wurde weit übertroffen. Dank der Plattenumsätze konnten wenig später mehrere Roma-Kinder aus Zece Prăjini eine höhere Schule oder Universität besuchen.“
Das Label Asphalt Tango Records lieferte mit dem zweiten Fanfare-Album jenen Zündstoff, der 2001 einen Boom auslöste. Robert Soko, Berliner Deejay mit bosnischen Wurzeln, legte bei seinen „Balkan Beats“-Partys viel osteuropäische Blasmusik auf. Seitdem gehören Platten der Fanfare Ciocărlia zum Standardrepertoire von Remixern und anderen Tanzflächenbefüllern.
Der Mensch lebt nicht allein vom Plattenverkauf. Musik, die von Henry Ernst in einer Dachkammer in Zece Prăjini produziert wurde, hat sich bewährt als Werbespot-Soundtrack. Für den Film Borat spielte Fanfare Ciocărlia 2006 eine Cover-Version der Biker-Hymne „Born To Be Wild“ ein. Im gleichen Jahr gewann die Band den „BBC Radio 3 World Music Award for Europe“, es folgten Grammy-Nominierungen und die üblichen Kritiker-Lobhudeleien. Aber welcher andere Musiker kann sich schmücken mit einem Lorbeer wie diesem? – „2012 gastierten wir neben Kylie Minogue bei der Friedensnobelpreis-Feier in Oslo. Sarah Jessica Parker – richtig, genau die aus Sex In The City – kündigte uns als ‘the world’s greatest brass band’ an.“
Schon wieder dieses „wir“. – „Das ist absolut berechtigt“, betont Henry Ernst. „Ich begleite die Band seit 1996 und habe seitdem ihren Ensemble-Sound mitgeprägt – im Studio und im Konzertsaal. Die Musiker hatten vor unserer Zusammenarbeit keine Vorstellung davon, wie sie mit einer Mikrofonanlage vor großem Publikum arbeiten müssen.“ Aber auch viele Zuhörer müssen erst noch lernen, diese Musik angemessen zu würdigen. „Neulich in Moskau, piekfeiner Konzertsaal mit Plüsch und so. Damen in Abendrobe, Herren in schwarzen Anzügen. Alle paar Meter eine ordnende Hand – mit wichtiger Miene und Knopf im Ohr. Jegliches Aufstehen oder Herumhüpfen wurde von den Security-Guards sofort unterbunden – bis zum dritten Titel, den die Band spielte. Danach kannte das Publikum kein Halten mehr, wildfremde Menschen tanzten miteinander, einige davon sogar auf den Plüschsitzen.“
Henry Ernst betont aber auch, wie sehr die Arbeit bei Hochzeiten und anderen Dorffesten den eigenwillig ausdrucksstarken Stil der Fanfare Ciocărlia prägt. „Welcher internationale Star könnte bei solch einem Nachbarschafts-Event arbeiten? Aber die Fanfare-Musiker sind sogar noch gewohnt, dass ihnen jemand einen Geldschein zusteckt und verlangt: Spiel was von Justin Bieber – aber sofort, sonst wird meine Frau sehr traurig.“ Nur wenige Bewohner von Zece Prăjini und der benachbarten Dörfer können abschätzen, in welcher Liga Fanfare Ciocărlia heute spielt. „2015 gastierten wir in Neuseeland beim WOMAD Festival, einem der wichtigsten Weltmusik-Ereignisse. Unser Name stand gleichberechtigt neben dem senegalesischen Kulturpolitiker Youssou N’Dour und dem Buena Vista Social Club aus Havanna.“ Zusammen mit diesen Kollegen wurden die Fanfare-Musiker von Maori, den Ureinwohnern Neuseelands, zu einer mehrstündigen Begrüßungszeremonie eingeladen. „Jede Musikgruppe bedankte sich bei den Gastgebern mit einer kurzen Ansprache in der jeweiligen Muttersprache. Cimai, unser Trompeter, überbrachte diese Botschaft: Wir kommen in Frieden.“