Jazz Nutty, Tokio – im besten Sinne unsozial …
… und doch richtig familiär und heimelig. Ist Japan an sich schon ein Paralleluniversum, so sind Jazz-Kissas ein Mikrokosmos im Mikrokosmos. Im „Jazz Nutty“ habe ich gelernt, wie man auch ohne Worte und nur über Musik mit Gleichgesinnten auf eine Wellenlänge findet.
„No talking, please“ steht bereits außen an der Eingangstür, ganz so, als richtete sich die Bitte nicht nur an die Gäste, sondern an alle, die sich gerade zufällig in „Störweite“ vor dem winzigen Lokal befinden – denjenigen, die diesen Laden frequentieren, ist es mit dem Hörspaß ernst. Die Erwartung wirkt in der Umgebung auch gar nicht unrealistisch, denn auch wenn sich das Jazz Nutty formal im Tokioter Stadtteil Shinjuku befindet, liegt es ein gutes Stück abseits des wuselig-lauten und neonlichtstarken Herzens des Bezirks – die Gegend um das Hörcafé ist tatsächlich erstaunlich ruhig und beschaulich, bedenkt man, dass wir uns hier nach wie vor mitten in der größten Metropolregion der Welt befinden.
Das Erste, was beim Betreten auffällt, ist, wie klein der Laden tatsächlich ist: Rund zwei Dutzend Gäste finden theoretisch Platz; dass bei dem halben Dutzend, das im Moment anwesend ist, nicht der Eindruck aufkommt, es sei wenig los, mag womöglich an der schieren Präsenz der beiden JBL 4331 B liegen, die gefühlt 20 Prozent des Raumvolumens für sich beanspruchen. Platziert sind die mächtigen Monitore recht nah in den Ecken beiderseits des Eingangskorridors, die „Dachschräge“ in ihrem Rücken ist ein architektonisches Kuriosum, befinden wir uns doch im Erdgeschoss.
Von der Bar her nickt mir der Besitzer grüßend zu, bietet mit einer einladenden Handbewegung freie Platzwahl an und reicht mir lächelnd, doch wortlos eine Karte, die neben den gängigsten Kaffee- und Teevariationen sowie diversen Alkoholika nur drei Snacks führt: Nüsse, Käse oder Schokolade. Per Fingerzeig gebe ich meine Bestellung auf und ärgere mich sogleich über meinen Mangel an weiser Voraussicht, weil ich als Gaumenschmeichler zu meinem Kaffee mit der ersten Option die zugleich geräuschintensivste gewählt habe. Was soll’s – wenn’s auf der Karte steht, wird es schon in Ordnung sein (oder ist das ein Test?). Wie dem auch sei, ich lehne mich in meinem Caféstuhl zurück und lasse mich, behutsam meine Mandeln und Cashews wegknuspernd, in das Hörerlebnis fallen. Die Akustik funktioniert verblüffend gut, die Diagonale hinter den Lautsprechern scheint tatsächlich mehr zu helfen als zu schaden, sodass die Vintage-Wandler eine veritable Bühne in den Raum werfen, die nicht nur eine Breite, sondern vor allem auch eine unerwartet ausgedehnte Tiefe besitzt. Der Bass kommt voll, aber schön definiert und trocken.
Etwas versteckt seitlich neben der Theke ist die HiFi-Elektronik in einem gut hüfthohen Regal untergebracht. Die sich leicht durchbiegenden Fachböden werden in erster Linie von einer Vor-/Endstufen-Kombi von McIntosh belastet, die für standesgemäßen Antrieb bei den JBLs sorgt. Die engen Platzverhältnisse machen ein „aktives Kühlsystem“ in Gestalt eines vor dem Rack aufgestellten Ventilators notwendig – der Highender mag an dieser Stelle erschaudern, doch sobald die Musik durch den Raum rollt, ist vom Lüfter zum Glück nicht der sprichwörtliche Hauch zu hören. Als Zuspieler dient die meiste Zeit über ein Technics SL-1200, doch zwei Marantz-Silberscheibendreher zeugen davon, dass hier durchaus nicht nur analog genossen wird.
Wer ob des Schweigegelübdes eine leicht unterkühlte Stimmung erwartet, könnte übrigens kaum weiter danebenliegen – vielmehr ist hier jeder für sich mit einer eigentümlichen Mischung aus Entspanntheit und Konzentration in den Musikgenuss versunken, und doch liegt irgendwie eine Aura des Gemeinsamen in der Luft. Eine Dreiergruppe am Tisch mir gegenüber sammelt schweigend Eindrücke, über die man sich auch später noch trefflich austauschen kann, und auch wenn die meisten Tische nur mit einzelnen Gästen belegt sind, wandern die Blicke zwischen den Stücken im Raum umher, mit lächelndem Kopfnicken bekundet man dem Besitzer wie auch einander, dass einem das letzte Stück besonders gefallen hat. Ein vielleicht 25-jähriger Gast am Tisch zu meiner Linken swingt zu den meisten Stücken enthusiastisch mit, während er sich durch einen Stapel offenbar frisch geschossener Vinyltrophäen schmökert, bei Gelegenheit auch die ein oder andere dem Gastgeber entgegenhält, was der mit einem gemimten Ausruf des Erstaunens und der Anerkennung quittiert.
Der Schallplattenwechsel öffnet dann doch ein Zeitfenster zu einem kurzen Unterhaltungssprint mit meinem Tischnachbarn; man gewöhnt sich schnell daran, die Konversation mitten im Satz zu unterbrechen und am Ende der Platte nahtlos weiterzuführen. Schließlich neigt sich die Öffnungszeit des Jazz Nutty ihrem Ende zu, die Reihen lichten sich. Im nun fast leeren Lokal macht auch das Redeverbot langsam Schicht und gibt mir Gelegenheit, mich – soweit es die Sprachbarriere zulässt – etwas mit dem Besitzer zu unterhalten, der sich als Ichiro Aoki vorstellt und mich gleichwohl ermutigt, meinen Tisch zu wechseln und zu verrücken, um die Akustik im Sweetspot erleben zu können. Nachdem er meine Herkunft erfragt hat, legt er sogar extra für mich den Mitschnitt eines Frankfurter Konzertes von Lee Konitz und Frank Wunsch auf.

Aoki-san eröffnete das Jazz Nutty vor 16 Jahren gemeinsam mit seiner Frau. Was er davor gemacht habe? Ebenfalls mit seiner Gattin zusammen ein Blumengeschäft geführt – nicht unbedingt die Antwort, die ich erwartet hätte, aber es ergibt Sinn: Ganz offensichtlich schätzen die beiden die schönen Dinge im Leben. Audiophil ist Aoki-san freilich nicht erst seit gestern: Das Soundsystem bildet eine repräsentative Stichprobe an Komponenten, die er über die Jahre angesammelt hat und denen er hier – anders als in der typischen Tokioter Wohnsituation – auch ordentlich Auslauf gönnen kann. In gewisser Weise hat er sich hier also ein Hörzimmer eingerichtet, über das er nicht mit seinen Nachbarn diskutieren muss – und das sich nebenher selbst finanziert. So kann man’s machen.
Kontakt
Jazz Nutty
1 Chome-17-4 Nishiwaseda
Shinjuku City
Tokyo 169-0051
Japan
Öffnungszeiten
Montag: 11 bis 19 Uhr
Mittwoch bis Freitag: 11 bis 19 Uhr
Samstag, Sonntag: 11 bis 18 Uhr
Dienstag Ruhetag