Frickelfest 2015 – Woodstock für Löter, Wasndas für Laien
Frickelfest 2015, was für eine Einladung: Komm ins Kloster, heißt es, sei unser Gast! Und schon stehe ich mit den Hühnern auf, preise Petrus und führe ein gottgefälliges Leben – wenigstens einen Samstag lang …
Gott zum Groove? Au ja, bloß weg hier! Am ersten Junisamstag diesele ich in aller Herrgottsfrühe von München in den Harz, fliehe vom bayrischen Starkregen in die Sonne des Ostens. Ziel: das ehemalige Kloster St. Gertrudis im kleinen Örtchen Hedersleben. Mission: Musik hören einmal anders. Ganz anders!
An der Eingangstreppe weist ein massives Metallschild im Rost-&-Schrauben-Look zum „Frickelfest 2015“. Atmosphärische Einstimmung auf das, was mich hier erwartet und so gar nichts mit der üblichen HiFi-Leistungsschau zu tun hat? Das schwere Ding ist natürlich selbstgefrickelt. Und völlig unnötig. Frickelfeste sind geschlossene Veranstaltungen. Tageskarten, Gästelisten, Kassenschlangen? Gibt es hier nicht. Hektik auch nicht, es ist sehr ruhig. Noch. All diejenigen, die es 1.) auf die streng begrenzte Teilnehmerliste und 2.) bis hierher geschafft haben, sind 3.) schon zwei Tage vor Ort und daher 4.) noch gar nicht vernehmungsfähig. Es ist elf Uhr dreißig.
Bereits am Eingang werde ich als „der angekündigte Fremdling“ erkannt. Bernd (offizielle Frickler tragen Namensschildchen) drückt mir einen frischen Kaffee in die Hand und dreht mit mir die erste Runde über zwei Etagen des Gemäuers, wir schlendern durch weitläufige Flure und zirkeln durch kleine, teils verwinkelt hintereinander liegende Räume. Jeder Frickel-Raum ist außen mit einem Pappschild markiert, darauf die großen Namen aus Jazz und Blues, nur das Herren-WC ist interessanterweise mit „Clapton“ bezeichnet. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Immerhin wurde „Clapton“ nicht komplett umgebaut, im Gegensatz zu allen anderen belegten Räumen. Diese Mischung aus studentischem Umzug, Heimwerkerparadies, Bauteillager und Hexenküche gefällt mir. Viele Räume sind echt originell dekoriert, wobei der Unterschied zwischen Deko und Nützlichem, manchmal sogar zwischen Audio- und Klosterequipment verschwimmt. Auf einer der Fensterbänke liegen Handgranatenhüllen … Die meisten Räume sind akustisch präpariert, wofür die ohnehin mitgebrachten Umzugsdecken, Matratzen und waghalsig gemusterten Teppiche zum Einsatz kommen. Langweilig ist definitiv anders. Irgendwie gewinne ich den Eindruck, dass Begleiter Bernd auch ein bisschen aufpassen soll, dass dieser Besucher aus München, der weder fließend Schaltpläne lesen noch mit der Stichsäge aus einem Gartenzwerg einen Tonarm herausmodellieren kann, irgendwelchen Schaden anrichtet. Passt schon, ich fass sowieso nix an.
Die Nächte auf dem Frickelfest sind traditionell lang. Und feucht. Und fröhlich. Möglicherweise auch laut. So ganz genau kann oder will sich hier derzeit niemand erinnern. Ist auch egal. Die Veranstalter buchen ohnehin immer das ganze Gebäude mit den dicken Wänden. Am Aufbautag (übrigens der einzige mit offizieller Nachtruhe) rückt eine bunte Karawane von ungefähr 80 Fricklern an, schleppt eine unglaubliche Menge Zeugs aus ihren Kombis und Trucks, verwandelt das idyllische Ex-Kloster in eine klingende Löt- und Fräskommune und feiert ein viertägiges Fest. Mit jeder Menge Selbstgeb(r)autem.
Tatsächlich läuft von Donnerstag bis Montag in den dicken, ehrwürdigen Gemäuern im Prinzip eine riesige Übernachtungsparty. „Die einzige Regel, die es dabei zu beachten gilt“, verrät mir nun der wie aus dem Nichts aufgetauchte Kollege Holger Barske, Mitveranstalter und Begründer des FF, „ist, dass es keine Regeln gibt. Na gut, alle müssen zwangsweise mit 230 Volt aus der Steckdose klarkommen, ansonsten aber ist schlicht alles erlaubt, was irgendwie Musik und Spaß macht – beziehungsweise machen könnte; etliche der Exponate entstehen ja erst vor Ort.“ Was im Gegensatz zum üblichen Messestress, bei dem alles pünktlich zur Eröffnung fertig sein muss, eher für Entspannung sorgt. „Ehrlich, das hier ist für mich der wahre Urlaub“, sagt Holger Barske und freut sich sichtbar über die unglaubliche Vielfalt an Talenten und Experimentalisten, die sich großzügig auf rund drei Dutzend Räume über zwei Etagen verteilen. Sinn und Zweck des Frickelfests war und ist es, Ideen untereinander auszutauschen, sich gegenseitig zu beflügeln, zum Nachdenken anzuregen – und zwar ohne kommerzielle Hintergedanken. Eine passende Veranstaltung gab es vor acht Jahren noch nicht; Barske hat sie ins Leben gerufen, getauft und geführt; mittlerweile besteht das Orga-Team aus mehreren Köpfen, die sich den keineswegs unerheblichen Aufwand der Betreuung aufteilen.
Frickeln, das bedeutet lustvolles Basteln im fortgeschrittenen Stadium. Und Frickeln wird weder von der Kasse bezahlt noch von der Damenwelt honoriert. Zu den rund 80 Jungs – alle im Alter zwischen 25 und 75 – gesellen sich in diesem Jahr exakt null Mädels. In diesem Jahr sind nicht einmal die sonst üblichen Quotengirls, stets als fürsorgliche Begleitung getarnt, mitgereist. War keine Absicht, ist aber auch kein Problem. Wir erinnern uns: geschlossene Veranstaltung, kein Krawattenzwang, kein T-Shirt-Wechsel-Zwang. Nicht einmal Lötkolben-Zwang. Selbst Ahnungslosigkeit ist kein Problem, wie ich an mir selbst feststelle. Ich höre halt wahnsinnig gern Musik und finde es grundsätzlich großartig, wenn Leute ihr letztes Hemd für den gesuchten Sound hergeben. Wie’s scheint, haben einige Frickler genau das schon hinter sich gebracht und tragen das diesjährige offizielle FF-T-Shirt. Oder das von vorletztem Jahr. Mittlerweile ist es Nachmittag, im teilbeschatteten Innenhof brutzelt Selbstgekauftes auf dem Grill, es gibt Kaffee und Kuchen und Bier. Auf den Bierbänken setzen sich die Fachsimpeleien aus den Fluren fort, einen Bonus für sicherlich nicht ganz zufällig anwesende Audioprominenz – ich entdecke Joachim Gerhard, Thomas Schick, Frank Schröder, Andrejs Staltmanis, Georg Stracke – gibt es weder am Grill noch beim Informationsaustausch. Hier sind wirklich alle gleich.
Wie klingt’s eigentlich auf dem Frickelfest? – Nun, ich entdecke genau ein Team, dessen Attitüde zumindest ganz grundsätzlich mit einem High-End-Ideal (aus den Achtzigern/Neunzigern) nicht kollidieren würde. Und dort klingt’s einigermaßen langweilig, nach Achtzigerjahre-HiFi halt. Alle anderen Installationen haben eher wenig bis rein gar nix mit den gängigen Kriterien einer typisch „audiophilen“ High-End-Wiedergabe zu tun – und genau das macht ja den Witz aus. Das meiste rangiert erklärtermaßen abseits von HiFi, es geht fast immer um einen bestimmten Sound, viele Ansätze darin erinnern mich an Musikerwünsche und deren Instrumentarium. Einige toben sich ausschließlich im Dreieck Vinyl/Röhre/Horn aus, es kursieren jede Menge sehenswerte Klassiker und Raritäten, die auch fröhlich hin- und herkombiniert werden. Und Laptops sind auf dem FF keineswegs allein zum Messen da, etliche füttern historische Elektronik mit HiRes-Dateien.
Sozusagen der letzte Schrei in diesem Jahr sind offenbar (schon wieder) offene Schallwände, die in wirklich allen nur denkbaren Variationen gezeigt, modifiziert und im wahrsten Sinne „versägt“ werden. Oder Hornsysteme, weitestgehend selbst gebaut, teils bunt beleuchtet. Wenn ich ehrlich sein darf, gefällt mir die JBL 4355 beim Kollegen Barske am allerbesten, obwohl sie, so ist später zu erfahren, am Samstag natürlich noch „weit unter Wert spielt“ und angeblich erst nach einem nächtlichen Umzug in einen ganz anderen Raum …
Jaja. Diese Art Gute-Nacht-Geschichten kenne ich noch von meinen eigenen Rock’n’Roll-Zeiten aus Berlin. Man ist nur wirklich dabei, wenn man auch selber frickelt. Und nachts ist’s ohnehin immer am besten. Sei’s drum. An diesem Samstag genieße ich höchst ungewöhnliche Musiksysteme im Dutzend, lerne einen Haufen netter, schräger, interessanter Typen kennen und bin dank vielfältigster Eindrücke irgendwie beruhigt, dass es ein ziemlich quirliges Leben außerhalb des Mainstreams gibt. Vielleicht darf ich im nächsten Jahr wiederkommen? Dann bleibe ich auch über Nacht. Ich kann vielleicht nicht löten, aber einen Viersaiter oder auch eine Bügelflasche korrekt bedienen. Und ich hätte da noch ein paar sehr schräge Scheiben in petto, die ich gern mal in Ruhe abspielen würde, ohne zu Hause für Aufruhr zu sorgen.
Yes, I survived Frickelfest 2015!