FIDELITY Wissen: Bi-Wiring und Bi-Amping
Wissen Sie, wie eine traditionelle indische dreispurige Straße funktioniert? Die mittlere Spur ist Motorfahrzeugen in beide Richtungen vorbehalten, während sich links und rechts davon je eine kleinere Spur für Fußgänger und Fahrräder befindet. Begegnen sich zwei Lastwagen auf der Mittelspur, tun Fußgänger und Fahrradfahrer auf gleicher Höhe gut daran, sich schleunigst ins Gebüsch zu werfen.
Ganz so dramatisch geht es auf dem Signalpfad zwischen Verstärker und Lautsprecher freilich nicht zu – immerhin funktioniert Musikwiedergabe mit nur einem Kabel für alle Frequenzen schon ganz prächtig. Dennoch gibt es Stimmen, die dem Bi-Wiring, also der Aufteilung des Wiedergabespektrums auf zwei Kabel – eines für die Höhen und Mitten und ein separates für den Bass – Klangverbesserungen nachsagen. Ob das der Fall sein kann und, falls ja, woran das liegen kann, wollen wir hier klären.
Wovon reden wir hier überhaupt?
Bi-Wiring bedeutet, dass jeder Lautsprecher nicht mittels eines, sondern zweier Kabel mit dem Verstärker verbunden wird. Das setzt natürlich voraus, dass sowohl Lautsprecher als auch Verstärker jeweils über zwei Paar Anschlussklemmen verfügen. Während Lautsprecher häufig eigens zu diesem Zweck Bi-Wiring-Terminals vorweisen können, besitzen Stereoverstärker oft zwei Paar Lautsprecherklemmen, um rudimentäre Multiroom-Setups zu ermöglichen, in denen zwei Lautsprecherpaare zwei Räume jeweils mit dem gleichen Signal versorgen. Die Klemmenpaare – üblicherweise mit „A“ und „B“ gekennzeichnet – lassen sich dann in der Regel über einen Drehsteller kontrollieren; damit die Doppelverkabelung funktioniert, muss am Verstärker die Stellung „A+B“ angewählt werden. Am Lautsprecherterminal hingegen müssen unbedingt die Bi-Wiring-Brücken entfernt werden, um das Signal nicht unmittelbar vor der Weiche kurzzuschließen.

Frequenzfunk
Nachdem wir unser Bi-Wiring-Setup korrekt verdrahtet haben, können wir uns nun natürlich fragen, was genau wir damit bezwecken wollen – welches Problem wollen wir überhaupt bekämpfen? Das Hauptargument für die Signaltrennung sind vagabundierende Ströme zwischen den Weichenwegen: Treiber zeigen aufgrund ihrer Massenträgheit stets eine gewisse Hysterese, das heißt sie überschwingen und bleiben nach dem Abriss eines Signals auch nicht unmittelbar stehen. Da dynamische Treiber nach dem Induktionsprinzip funktionieren, reagiert die Schwingspule in ihrem Magnetfeld auf diese unkontrollierten Bewegungen wie ein Generator und erzeugt eine Gegen-EMK (elektromotorische Kraft), die über das Lautsprecherkabel Richtung Verstärker „zurückprallt“ und auf dem Weg das Signal verzerrt. Eine gut konstruierte Endstufe sollte einen geringen Innenwiderstand und damit einen hohen Dämpfungsfaktor besitzen, das heißt sie sollte in der Lage sein, diese Gegen-EMK rasch gen Masse abzuleiten, bevor sie nennenswerten Schaden anrichten kann. Der Kabelwiderstand senkt den Dämpfungsfaktor allerdings effektiv und erhöht damit das Risiko, dass sich ein Teil der Gegen-EMK einen Weg zu einem benachbarten Frequenzzweig bahnt. Wenn man sich nun vor Augen hält, dass ein Basssignal ein Vielfaches der Leistung eines gleich lauten Hochtonsignals führt, wird klar, dass selbst ein Bruchteil dieser Energie bereits beträchtliche negative Auswirkungen auf den Klang haben kann.
Verbindet man Tiefmittel- und Hochtonzweig jeweils mit einem eigenen Lautsprecherausgang, kommt man diesem Problem zuvor, weil man den Übergabepunkt zu den Eingängen der Frequenzzweige von der Frequenzweiche weg direkt zum Endstufenausgang verlegt – die Querverbindung zwischen den Zweigen ist an dieser Stelle viel besser gegen ungewollten Austausch abgesichert, da die Endstufe die vagabundierenden Ströme viel schneller ableiten kann. Die Gegen-EMK aus dem Tiefmitteltöner kann entlang des Kabels zudem nur das relativ robuste Tiefmitteltonsignal beeinflussen, nicht aber den filigranen Hochton.
Bi-Amping
Man kann natürlich noch weiter gehen und statt separater Kabel gleich jeden Frequenzzweig einer eigenen Endstufe überlassen. Da hier der Übergabepunkt zu den Ausgängen der Vorstufe verlagert wird, kann der Hochton allenfalls noch durch Reste des unverstärkten Line-Level-Tieftons beeinflusst werden. Dadurch ist man letztlich auch vom Dämpfungsfaktor der Endstufe unabhängig.
Da Bi-Amping jedoch mit sehr viel höheren Kosten verbunden ist als Bi-Wiring, stellt sich hier unweigerlich die Kosten-Nutzen-Frage. Grundsätzlich gilt: Je höher der Dämpfungsfaktor eines Verstärkers, desto effektiver kann dieser vagabundierende Ströme neutralisieren. Daraus folgt logisch, dass wir uns von Bi-Wiring vor allem an Verstärkern mit besonders geringem Innenwiderstand einen merklichen Klanggewinn versprechen können, wobei ein Upgrade auf Bi-Amping in diesen Fällen keinen großen Unterschied mehr machen sollte – für Freunde kleiner SET-Endstufen kehrt sich die Rechnung dagegen unter Umständen komplett um. Zuletzt sei noch bemerkt, dass Mehrkanal-Endstufen wie etwa die Primare A35.8 (den Test finden Sie hier) Bi- oder gar Tri-Amping von der Kostenseite her deutlich attraktiver machen können.
Die Theorie sagt demnach klar Ja zu Bi-Wiring und in der richtigen Konstellation eventuell auch zu Bi-Amping. Da es unter HiFi-Enthusiasten allerdings nicht unumstritten ist, ob sich überhaupt ein hörbarer klanglicher Vorteil einstellt bzw. ob er den Aufwand wert ist, empfiehlt sich auf jeden Fall der Gang zum Händler Ihres Vertrauens: Leihen Sie sich ein zusätzliches Kabel, vielleicht sogar eine Endstufe aus, spielen Sie ein Wochenende lang und entscheiden Sie dann für sich selbst.