Buchprüfung: Richard Powers – Der Klang der Zeit
Am 9. April 1939 gab die Sängerin Marian Anderson vor dem Lincoln Memorial in Washington ein Open-Air-Konzert – rund 75000 Menschen hörten ihr zu. Marian Anderson war nicht nur ein Idol der Klassikwelt („Jahrhundertbegabung“), sondern auch ein Idol der Afroamerikaner: die erste schwarze Sängerin, die sich im weißen Klassikbetrieb behaupten konnte. Bei diesem Konzert lernen sich zufällig zwei Menschen kennen, die einander sonst nie begegnet wären: Delia Daley, Tochter eines afroamerikanischen Arztes aus Philadelphia, und David Strom, jüdischer Emigrant aus Deutschland, Quantenphysiker im Umfeld Oppenheimers. Die Musik ist es, die die beiden zusammenführt und sie schließlich dazu bringt, soziale Grenzen einfach zu ignorieren. Delia und David heiraten, bekommen drei Kinder und sehen ihre germanisch-jüdisch-afrikanisch-amerikanische Familie als Entwurf einer besseren Zukunft. In der rassistischen Realität Amerikas müssen sie scheitern. Aber in der Illusion – oder vielleicht der höheren Wirklichkeit – der Musik gewinnt ihre Vision Kraft und Wahrheit. Powers’ Buch von 2003 – es war bereits sein achter Roman – erzählt auf neue Art die Geschichte der Afroamerikaner, die Geschichte von Schwarz und Weiß in den USA. Die Hauptrolle spielt dabei die Musik, die weiße und die schwarze. Kaum jemals hat ein Buch – ob Sachbuch oder Roman – Wichtigeres, Gültigeres und Klügeres über Musik gesagt als Der Klang der Zeit (im Original: The Time Of Our Singing). Vielleicht der bleibendste Roman der Nullerjahre.