Ernie Henry – Zu Unrecht vergessen
Der Altsaxofonist Ernie Henry (1926–1957) spielte mit Monk, Mingus und Gillespie – und er war drauf und dran, die Brücke vom Bebop in den Free Jazz zu schlagen. Doch sein Leben endete viel zu früh.
Seine ersten Aufnahmen machte er in den 1940er Jahren bei den Pionieren des Bebop-Stils: bei Tadd Dameron, Max Roach oder den Trompetern Fats Navarro und Dizzy Gillespie. Als Altsaxofonist stand Ernie Henry damals natürlich tief im Schatten des großen Charlie Parker. Aber der Youngster verstand es, seinen Soli einen anderen Dreh und Drall zu geben und die typischen Parker-Phrasen möglichst zu vermeiden. Schon in Stücken wie „The Chase“ und „The Squirrel“ (beide 1947 bei Dameron/Navarro) tendiert sein Spiel zu einem rauen Cry und zu abenteuerlichen Läufen durch die Oktaven.
Zu Beginn der 1950er Jahre verschwand Ernie Henry für längere Zeit von der Szene. Es war ein offenes Geheimnis, dass er mit seiner Drogensucht zu kämpfen hatte. Der Heroinkonsum war damals eine traurige Modeerscheinung unter Jazzmusikern. Viele Talente starben in jungen Jahren an einer Überdosis, darunter Freddie Webster (1947), Sonny Berman (1947), Dick Twardzik (1955), Carl Perkins (1958), Shadow Wilson (1959) und Sonny Clark (1963). Auch Charlie Parker, der führende Altsaxofonist des Bebop, verlor sein Leben bereits 1955 – Heroin und Alkohol hatten großen Anteil daran. Als Ernie Henry ein Jahr nach Parkers Tod auf die Szene zurückkam, war sein Stil hörbar gereift. Er vermied nicht mehr zwanghaft den Anklang ans große Vorbild, sondern integrierte den „Parker-Tonfall“ in seine eigene Phrasierung. Sein Sound war aggressiv, fast tenoristisch. Er spielte virtuosen Bop, aber führte seine Linien über große Intervalle in entlegene Gebiete. Kein Wunder, dass der spätere Avantgardist Eric Dolphy ein großer Fan von ihm war.
Wenige Tage vor seinem 30. Geburtstag macht Ernie Henry seine Debütplatte: Presenting Ernie Henry (Riverside, 1956). Fünf der sieben Stücke dieses Quintettalbums stammen von ihm selbst – sie sind mehr Bebop als Hardbop. Nach dem Thema stürzt sich Henry jedes Mal selbstbewusst als Erster ins Solo – ein virtuoser Bopper am Altsax, aber zusätzlich mit einem dringlichen „Cry“ und einer modernistischen Zerrissenheit der Phrasierung, die an Jackie McLean gemahnt. Das Schlussstück „Cleo’s Chant“ ist dann ein echter Blues-Schleicher im „funky“ Hardbop-Stil von Horace Silver. Die anderen Hauptsolisten auf dem Album heißen Kenny Dorham (Trompete) und Kenny Drew (Piano). Im September 1957 wird Henry noch weitere Aufnahmen als Bandleader machen. Sie erscheinen erst nach seinem Tod.
Seine berühmtesten Studio-Dates absolviert er im Oktober 1956 für Thelonious Monk. Der Pianist hat für das Album Brilliant Corners (Riverside, 1956) eine kantige Frontline aus zwei Saxofonen gebucht (das Tenor bläst Sonny Rollins) und dafür drei spannende Stücke geschrieben. In „Ba-Lue Bolivar Ba-Lues-Are“, einem erdigen Midtempo-Blues, liefert Henry eines seiner expressivsten Soli ab.
In der Ballade „Pannonica“, in der Monk überraschend eine Celesta einsetzt, spielt das Altsaxofon dagegen nur im hörenswert gesetzten Ensembleteil. Das zweite Studiodate (immerhin volle vier Stunden) geht dann ganz fürs Titelstück drauf. „Brilliant Corners“ ist ein höchst ungewöhnliches Thema. Die Band macht 25 Versuche, aber am Ende muss der Produzent das Stück aus mehreren Takes zusammenbasteln. Ernie Henry steht im Studio kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Weil ihn Monks sperrige Klavierbegleitung irritiert, setzt der Bandleader in Henrys Solo sogar aus. (Dasselbe macht Monk auch häufig, wenn er mit Miles Davis spielt.) Ernie Henry erlaubt sich im Solo daraufhin abenteuerliche harmonische Bögen. Gut möglich, dass Eric Dolphy durch genau diese Improvisation zum Henry-Fan wurde.
Kenny Dorham, der Trompeter auf Henrys Debütalbum, revanchiert sich Ende 1957 und macht mit dem Saxofonisten zusammen das Album 2 Horns/2 Rhythm (Riverside, 1957). Der Titel verrät, dass es sich um ein klavierloses Quartett handelt – und wieder nutzt Henry die Chance, seinen kontrolliert zerklüfteten Stil harmonisch zu lockern. Sein fantastisches Spiel zielt hier direkt in Richtung des freieren Jazz der 1960er Jahre. Den Anfang des Albums bildet Dorhams Geniestreich „Lotus Blossom“, und am Ende gibt es einen bodenständigen Blues („Noose Bloos“) und eine pseudobarocke Fugato-Nummer („Jazz-Classic“). Vier Wochen nach diesen Aufnahmen stirbt Ernie Henry mit 31 Jahren an einer Überdosis. Es sind nur wenige Fotos von ihm bekannt.