30 Jahre Dummy, 30 Jahre Trip-Hop
Vor 30 Jahren wurde in Bristol ein neues Kapitel in der Musikgeschichte aufgeschlagen.
Es ist immer schwierig, den Beginn einer Epoche, den zeitlichen Ursprungs eines musikalischen Genres exakt zu bestimmen. Zu fluide sind die Übergangsprozesse, zu vielschichtig die künstlerischen Austauschprozesse, die zu einem neuen verbindenden Element führen. Meist orientiert man sich an einem Zeithorizont, an dem eine im Nachhinein ikonische Veröffentlichung festzumachen ist, oder wenn die Begrifflichkeit ihre erste Niederschrift findet. Im Falle von Trip-Hop kann beides auf das Jahr 1994 datiert werden. In der Juni-Ausgabe des Mixmag prägt der Musikjournalist Andy Pemberton den Begriff „Trip-Hop“, um die „kopfnickenden“ Beats von DJ Shadow und den frühen Chemical Brothers zu beschreiben.
Entscheidend aber wird der Oktober 1994, in dem die bis dahin unbekannte Band Portishead ihr Debütalbum Dummy veröffentlicht, das im darauffolgenden Jahr den berühmten Mercury Prize gewinnt. Der Erfolg von Dummy beruht letztlich darauf, dass die bislang verwendeten musikalischen Trip-Hop-Ingredienzien hier konzentriert unter dem Brennglas erscheinen. Hinzu kommt die fragile Stimme von Beth Gibbons, die wie keine andere Stimme zuvor die Atmosphäre der Musik charakterisiert.
Was aber zeichnet die Wirkungsmacht dieses Genres musikalisch aus? Der Rhythmus im Trip-Hop orientiert sich an den seit den späten 80er Jahren dominierenden Breakbeats, verschleppt diese bei nur 80 bis 100 bpm aber häufig bis zur Unendlichkeit. Wechselnde Betonungen und stolpernde „Pausenbeats“ verleihen der rhythmischen Textur eine nicht vorherzusehende Unregelmäßigkeit, die eine starke hypnotische Wirkung hat. Unterbrochen oder rhythmisch kontrapunktiert werden die Beats häufig durch aus dem Hip-Hop entlehnte Scratching-Effekte, die aber im Gegensatz zum Hip-Hop hier in erster Linie eine soundästhetische Wirkung haben sollen. Dazu gehören auch die beinahe auf allen Trip-Hop-Alben hinzugemixten Samples von Rillengeräuschen alter zerkratzter Platten, womit wir bei einem weiteren technischen Element sind, das der Musik neben aller zeitgenössischen Modernität immer eine Prise Retro hinzufügt: Eine spezielle Auswahl von Sampling und Soundcollagen – von Jazzplatten über Filmsoundtracks bis hin zu Field Recordings. Durch die Manipulation dieser Samples entstehen oft unverwechselbare, weil schräge Klangsignaturen. Auch hier ist Portisheads Dummy stilbildend gewesen: Man hört beispielsweise mit Lalo Schifrins „The Danube Incident“ und Smokey Brooks’ „Spin It Jig“ auf „Soir Times“ – dem wohl bekanntesten Track des Albums – gleich zwei Samples als musikalische Referenzen.
Ebenfalls bemerkenswert ist das Sample in „Mysterons“, das aus der britischen Science-Fiction-Serie Captain Scarlet and the Mysterons von 1967 stammt. Der Song fängt die unheimliche Atmosphäre dieser Serie ein, in der die Mysterons als unsichtbare Aliens dargestellt werden, die mit verzerrten Stimmen aus Radio- und Fernsehgeräten kommunizieren. Der rhythmisierte Einsatz dieses Samples im ersten Track gibt die gesamte Atmosphäre des Albums vor. Auch hier kann Dummy wieder Pars pro Toto für viele Trip-Hop-Alben stehen. Die Kombination verschiedener Klangelemente, darunter Beats, Samples, Instrumentierung und Effekte, setzt das Atmosphärische als musikalische Hauptkategorie. Häufig werden Hall-, Echo- oder Verzerrungseffekte verwendet, um eine zusätzliche Tiefe und Textur zu erzeugen. Die Verwendung von Mollakkorden trägt ebenfalls dazu bei, den Songs diese spezifisch düster-melancholische Note zu verleihen, die aber aufgrund der elektronischen Beats nie ins Kitschige abdriftet.
Um das Wesen von Trip-Hop wirklich zu verstehen, muss man allerdings nach Bristol reisen. Vordergründig könnte man meinen, dass die Melancholie der Musik dem permanenten Regen im Südwesten der britischen Insel geschuldet ist. Aber die Wurzeln reichen tiefer in die besondere Subkultur der späten 80er und frühen 90er Jahre hinein. Bristol hat einige der innovativsten und einflussreichsten Künstler überhaupt hervorgebracht, die so gar nicht zum typischen Gitarrensound des BritPop passen. Von den Trip-Hop-Pionieren wie Portishead und Massive Attack bis hin zu den Drum’n’Bass-Genies wie Roni Size – die Stadt hat zweifelsohne Musikgeschichte geschrieben. Doch dieser kreative Schmelztiegel, der den Sound der Stadt in den 90er Jahren prägte, entstand nicht über Nacht. Schon in den frühen 80ern war Bristol ein Zentrum für musikalische Experimente. Bands wie Pigbag und The Pop Group mischten Punk, Jazz und Funk und schufen damit einen ganz neuen Sound, der die Grundlage für das legte, was später kommen sollte.
Der Stadtteil St. Pauls spielte eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der lokalen Musikszene. Hier, inmitten der frühen englischen Straßenkämpfe der Zeit, trafen sich experimentierfreudige Künstler zu fetten Bassklängen im Black and White Café. In dieser Szene spielte die ethnische Zugehörigkeit keine Rolle – es ging um die Leidenschaft für Musik. DJ- und Graffiti-Künstler aus dem sogenannten Wild-Bunch-Kollektiv, mischten sich inspiriert vom Hip-Hop, im Dug Out Club und amalgamierten sich zu einer Szene, aus der dann später auch die Mitglieder von Massive Attack stammen sollten. Trip-Hop, mit seinen Wurzeln in der vielfältigen Kultur Bristols, ist mehr als nur ein musikalisches Genre. Es ist der Ausdruck einer Generation, die durch die Verschmelzung unterschiedlicher musikalischer, kultureller und sozialer Einflüsse einen außergewöhnlichen Weg beschritten und außergewöhnliche Musik geschaffen hat. Und auch nach 30 Jahren muss man sagen: Alben wie Portisheads Dummy besitzen vollkommen zu Recht Kultstatus, sind sie doch Ausdruck zeitloser musikalischer Qualität.