Die heimlichen Meisterwerke des Jazz – Shelly Manne’s, The Three & The Two (1954)
Der Jazz ist unübersichtliches Gelände – leicht kann man da Bedeutendes übersehen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte. Dieses Mal: Shelly Manne’s, The Three & The Two
Der sogenannte West Coast Jazz der 1950er Jahre gilt als die kalifornische Variante des Cool Jazz. Vielfach verbindet man mit dem West Coast Jazz die sonnige Relaxtheit der Pazifikstrände, gemütliche Jamsessions an Leuchttürmen und den kommerziellen Geschmack von Hollywood. Im Wikipedia-Artikel zum West Coast Jazz heißt es: „Bereits auf den Covern der Schallplatten wurden hier Assoziationen an Badestrand, Urlaub, frische Luft geweckt. Jazz wurde hier in der Tendenz mit dem Image lässiger Freizeitmusik versehen.“
In solchen Klischees steckt aber nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Die kalifornische Musikszene der 1950er Jahre war vor allem von zeitgenössischen E-Musik-Klängen fasziniert, von Strawinsky und Schönberg. Die Arrangeure, die in Hollywoods Film- und Fernsehstudios arbeiteten, flirteten mit neuen tonalen Konzepten und serieller Komposition und brachten ihre Ideen auch in die Jazzbands ein. West-Coast-Jazzer machten kein Beach-Entertainment. Sie experimentierten vielmehr mit spontanem Kontrapunkt, wandernden tonalen Zentren, der Sprengung der Chorusform, Polytonalität, Reihentechnik, Kanon- und Fugenformen und einer Neuorganisation der Harmonik. Diese Befreiungen sollten eine wichtige Quelle des Free Jazz werden. Die ersten Aufnahmen von Ornette Coleman, dem Free-Jazz-Pionier, erschienen auf Contemporary Records, dem führenden West-Coast-Label. Einer von Colemans Schlagzeugern war dabei Shelly Manne – eine Symbolfigur des West Coast Jazz.
Shelly Manne (Schlagzeug), Shorty Rogers (Trompete) und Jimmy Giuffre (Saxofone, Klarinette) bildeten damals die „Big Three“ der kalifornischen Jazzszene. Sie arbeiteten in vielen Bands zusammen, bei Mannes Men, Rogers’ Giants, auch bei Teddy Charles, Woody Herman oder Howard Rumsey. „Wir haben einen gemeinsamen Instinkt entwickelt“, meinte Giuffre. Im September 1954 machten „The Three“ sechs Aufnahmen nur im Trio, ohne Klavier und Bass – schon von der Instrumentierung her pure Jazz-Avantgarde. Die drei experimentieren hier mit einer Zwölftonreihe („Three On A Row“), einem Kanon-Rondo („Pas De Trois“) oder freier Kollektiv-Improvisation („Abstract No. 1“). Shelly Manne suggeriert am Schlagzeug eine dritte Melodiestimme oder spielt auch einmal ein „langsames“ Drumsolo.
Vier Tage später ging Shelly Manne erneut ins Studio und schuf ein weiteres Highlight kalifornischer Jazz-Emanzipation. Hinter „The Two“ verbergen sich er und der Pianist Russ Freeman, ein wichtiger Aktivposten der Westküsten-Szene. In sechs Stücken finden Manne und Freeman zu ganz neuen Formen des Zusammenspiels, in denen Chorus- und Taktform zuweilen aufgebrochen werden. Über das Stück „Speak Easy“ sagt Manne: „Wir solieren gleichzeitig, versuchen uns miteinander zu verflechten, bleiben in der 32-taktigen Form oder werden abstrakt.“ Schon die Besetzung – nur Piano und Schlagzeug – bedeutete eine Novität im Jazz. „The Three“ & „The Two“ – sie waren ihrer Zeit um Jahre voraus.