Die heimlichen Meisterwerke des Jazz – James Carter, JC On The Set (1993)
Jazz ist unübersichtliches Gelände – leicht kann man da Bedeutendes übersehen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte. Dieses Mal: James Carter, JC On The Set (1993)
Da platzt einer beinahe vor Selbstbewusstsein: 24 Jahre alt, explosives Temperament, eigenes Quartett, ein Debütalbum wie ein Taifun! Die Insider kennen ihn natürlich schon länger, diesen James Carter, den wilden, zornigen Saxofonisten aus Detroit, der seine Kanne bläst, als wolle er sie zum Schmelzen bringen. „JC On The Set“, das Titelstück, fällt gleich mit der Tür ins Haus: Ich bin da, ich, James Carter – und keiner kommt gegen mich an. Dabei ist es eigentlich ein konventionell gebautes, swingendes Stück, der Opener, aber dieser Hitzkopf am Saxofon packt hinein, was hineingeht. Carters Tenor growlt, ploppt, kreischt, schmiert, rockt, hupt und pfeift – die Power immer am Anschlag. „Ich bin wohl ein frustrierter Rockgitarrist“, sagt er. „Ich identifiziere mich mit Jimi Hendrix, das ist der ‚mad part‘ in mir. Ich liebe das Elektrische, auch wenn ich es auf ein akustisches Instrument übersetze. Es ist dieselbe Energie.“
James Carter war von Anfang an eine Sensation. Ein Virtuose und Angeber, der keine langweilige Phrase spielen kann und dabei doch ständig den Effekt kalkuliert. In jedem Augenblick stehen ihm alle Stilmittel der Jazzgeschichte zur Verfügung, irrwitzige Bopläufe neben sägenden Mehrklängen, erdiges Bluesfeeling neben quietschenden Tonschlieren. Ein alter Rhythm’n’Blues-Honker scheint in Carter zu stecken, der rau und expressiv loslegt, aber auch ein Free-Avantgardist, der die experimentellsten Sounds beherrscht. Wie er das alles in einen mitreißend swingenden Mainstream-Jazz packt, das hat schon etwas Dämonisches.
Und als wäre das nicht Originalität genug, zaubert dieser elegant-raffinierte Wüterich gelegentlich auf einem ganzen Arsenal an Instrumenten – von diversen Saxofongrößen über Klarinetten und Flöten bis hin zu Oboe und Fagott. Auf dem Debütalbum von 1993 immerhin beschränkt er sich noch auf drei Hörner: Tenor, Alt und Bariton. „Die vielen Instrumente sind kein Gimmick“, sagt er. „Sie gehören für mich alle zusammen, sie verständigen sich untereinander. Jedes Horn hat dabei seine eigene Persönlichkeit – eine komplexe Persönlichkeit.“ Für zwei Ellington-Klassiker hat er das Bariton gewählt, eine Verbeugung vor Harry Carney – aber hat man, bitte schön, je zuvor ein so virtuoses, flexibles, ekstatisches Baritonspiel gehört? Und dann überrascht uns Carter noch mit komplett verschütteten Diamanten der Jazzgeschichte, raren Stücken von Don Byas, Sun Ra und John Hardee. Balladen spielt er übrigens genauso gerne und genauso intensiv wie Uptempos – auch ein langsamer Takt steckt bei ihm voller Pointen. Klar, dass sich seine Band von so viel überschäumendem Genie mitreißen lässt, allen voran der Klavier-Freigeist Craig Taborn. Was Originalität, Spieltechnik, Energie betrifft, setzte dieses Album neue Marken für den Mainstream-Jazz. Sie wurden seitdem nicht übertroffen.
James Carter, JC On The Set (1993)