Jazz ist unübersichtliches Gelände – leicht kann man da Bedeutendes übersehen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte.
Diese Platte dürfte es eigentlich gar nicht geben. In der offiziellen Jazzgeschichte spielt sie praktisch keine Rolle, auch Gerry Mulligan übersprang sie in Interviews meistens. Am 27. August 1951 sind die Aufnahmen entstanden, in Hackensack, New Jersey. Der junge Rudy Van Gelder war der Toningenieur, zu einer Zeit, als man beim Label Blue Note noch gar nichts von ihm wusste. Neben dem Wohnzimmer seiner Eltern hatte er sich einen kleinen Kontrollraum eingerichtet, alles war noch provisorisch und experimentell. Auch die Musiker, die an diesem Tag zu Besuch kamen, experimentierten noch. In diesem Sommer probten sie manchmal am Seeufer im Central Park – bis die Polizei sie vertrieb.
Der Saxofonist Gerry Mulligan hatte bis dahin vor allem in Bigbands mitgespielt, auch ein paar Arrangements geschrieben. Seine bedeutendste Leistung war die Mitarbeit in Miles Davis’ Capitol Orchestra (1949/50) – da bildete Mulligan zusammen mit Miles Davis und Gil Evans den innersten Kern. Drei Stücke schrieb er für Miles’ Nonett und arrangierte drei weitere. Doch nur wenige dieser Aufnahmen wurden zeitnah veröffentlicht (auf 78er-Scheiben). Erst 1957 sollten elf der zwölf Stücke auf einer LP erscheinen, die dann den angemessenen Titel Birth Of The Cool erhielt.
1951 war die historische Bedeutung des Capitol Orchestra noch nicht erkennbar. Aber Mulligan verfolgte die Ideen, die er mit Miles Davis und Gil Evans entwickelt hatte, weiter: die entspannten Tempi, den weichen Sechs-Bläser-Klang, die melodischen Linien – Dinge, die die Seele des Cool Jazz ausmachen sollten. Bei Rudy Van Gelder tauchte Mulligan mit einem eigenen Nonett auf, zum Tentett ergänzt durch Gail Madden, Mulligans damalige Freundin, an den Maracas. Sechs Stücke hatten die Musiker vorbereitet – typische Mulligan-Themen, die überwiegend relaxt dahinschlendern, zum Mitsummen oder Mitpfeifen einladen, eingängige Melodien, kontrapunktisch ausgearbeitet. Im Zentrum steht ein sonorer Holzklang: ein Tenorsaxofon und zwei Baritonsaxofone. Die beiden Baritons eröffnen das erste Stück („Funhouse“) ohne Rhythmusbegleitung – schon das war ziemlich unerhört.
Die sechs Stücke erschienen damals auf einer 10-Inch-Scheibe, einem ganz neuen Tonträgerformat. Es war Gerry Mulligans Debütalbum: Zum ersten Mal hörte man den damals 24-Jährigen ausführlich auf dem Baritonsax improvisieren, in dieser ungekünstelt-hemdsärmeligen Art, die er Lester Young abgelauscht hatte: leichte, flüssige Linien, jede Phrase eine Melodie. Der zweite Hauptsolist, Allen Eager am Tenorsaxofon, ist bei diesen Aufnahmen in der Form seines Lebens. Als die Platte später als 12-Inch wiederveröffentlicht wurde, packte man auf die B-Seite eine Blues-Jam („Mulligan, Too“) vom gleichen Tag: nur Mulligan, Eager und die Rhythmusgruppe. Eine 17-Minuten-Improvisation ohne Thema – eine Pioniertat.
Wenige Monate nach diesen Aufnahmen zog Mulligan nach Kalifornien. Dort gründete er seine erste offizielle Band, das Quartett mit Chet Baker, das zum Startschuss des Westcoast-Jazz wurde. Doch im Grunde begann der Westcoast-Jazz am 27. August 1951 in Hackensack. Das Sechs-Bläser-Format wurde dann ein Standard in Kaliforniens kühler Szene.
Mulligan plays Mulligan auf discogs