Die heimlichen Meisterwerke des Jazz – Evolution
Jazz ist unübersichtliches Gelände – leicht kann man da Bedeutendes übersehen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte.
Er kam aus einer Jazzmusiker-Familie und wuchs in der Jazz-Hauptstadt auf, in New York. Schon in seiner Highschool-Zeit hatte der Posaunist Grachan Moncur III (1937–2022) mit dem Saxofonisten Jackie McLean gejammt – das war dieser frühreife Miles-Davis-Protegé, der mit einer solchen Energie in sein Altsax blies, als wolle er es zum Glühen bringen. Im Sommer 1962 brachte der junge Schlagzeuger Tony Williams diese beiden wieder zusammen. Und nun passte plötzlich alles: McLean wollte gerade eine neue Band starten – und Moncur hatte zwei Monate lang die Musik von Thelonious Monk studiert und damit begonnen, eigene Stücke zu schreiben. Außerdem standen besagter Tony Williams und ein junger Vibrafonspieler namens Bobby Hutcherson in den Startlöchern – Moncur hatte mit beiden schon gespielt. Die neue Band konnte eigentlich loslegen. „Bei Blue Note ließ man uns freie Hand“, erzählte McLean.
Im April und September 1963 machte die McLean-Moncur-Band zwei Alben unter McLeans Namen – von Grachan Moncur III aber kamen da schon fünf der acht Stücke. Und was waren das für Stücke: sperrige, boppige Modalnummern wie „Riff Raff“ oder mysteriöse, schwebende Stimmungen wie in „Ghost Town – es waren völlig neue Töne. Dazu Moncurs dunkelkräftige Posaune, das kristallin pointierende Vibrafon von Hutcherson und die geniale Rhythmusarbeit von Tony Williams – diese Band klang ganz besonders. Wie es bei Blue Note gute Sitte war, wurde den brillanten Nebenleuten angeboten, eigene Leaderplatten aufzunehmen. Moncur war der Erste – und machte einfach mit derselben Band weiter. Das Label schlug als zusätzliche Farbe den grandiosen Trompeter Lee Morgan vor, der gerade sein Comeback vorbereitete. Moncur nahm den Vorschlag gerne an – und Evolution wurde die Platte seines Lebens.
Vier neue Stücke hat er dafür geschrieben – eines individueller und ungewöhnlicher als das andere. „Air Raid“ im Wechsel zwischen Trauermarsch und Uptempo-Swing. „Evolution“ quasi rubato über stehenden Klängen. „The Coaster“: ein flottes Modalstück mit 40-taktigem Chorus – es wurde später auch betextet. Schließlich „Monk In Wonderland“: eine raffinierte Monk-Hommage über wechselnden Taktarten. „Aus meinen Monk-Studien entstand meine ganze Laufbahn als Komponist“, sagte Moncur später. „Ich schrieb diese Stücke damals mithilfe einer Melodica, denn ich hatte kein Klavier.“
Seine Musik schlug die Brücke zwischen dem alten Hardbop und dem neuen Freejazz – „etwas Freieres, aber verknüpft mit strukturierten Formen“, so beschrieb es McLean. Er sagte: „In der Vergangenheit bestanden die meisten Jazzkompositionen aus einer Melodie, meist in vier Vierteln, und die Soli folgten mehr oder weniger derselben stereotypen Erwartung. Heute beschäftigen sich die Kompositionen immer mehr mit Form, Rhythmuswechseln und Taktbrüchen. Wir leben in einem Zeitalter der Geschwindigkeit und Vielfalt.“ Moncur selbst meinte: „Ich nannte das Album ‚Evolution‘, weil ich mir vorstellte, dass sich meine Musik aus dem Mainstream heraus weiterentwickelt.“ Dieses Album war der Gegenwart um einen Schritt voraus.
Grachan Moncur III – Evolution bei jpc