Die heimlichen Meisterwerke des Jazz – Earth Beams (1980)
Der Jazz ist unübersichtliches Gelände – leicht kann man da Bedeutendes übersehen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte.
Charles Mingus spielte nur mit Musikern, die – so wie er – das Unbedingte wollten: kompromisslos, individuell, ausdrucksstark, mit voller Power. In seine letzte Working Band (1973–1976) holte er den Saxofonisten George Adams, den Pianisten Don Pullen und – nach kurzer Unterbrechung – wieder seinen langjährigen Schlagzeuger Dannie Richmond.
George Adams verfügte am Saxofon über diesen lauten, kratzigen R&B-Ton, verband ihn aber mit freien „Butterfly“-Sounds, einem souligen Falsett und hungrigen Tremoli. In seinem Spiel verschmolzen der Blues des Südens und die modale Energie eines John Coltrane zu einem Maximum an Ausdruck. Don Pullen war ein Pianist, der aus herkömmlichen Songstrukturen die wildesten Funken schlagen konnte. Er agierte mit Swing, mit Funk, mit Groove – aber würzte sein Spiel mit klirrenden Dissonanzen und schrillen Clustern, die bei ihm immer schlüssig und mitreißend klangen. Dannie Richmond war seit 1955 Mingus’ Schlagzeuger und beherrschte wie kein anderer die plötzlichen Umschwünge und gewalttätigen Ausbrüche in Mingus’ Musik. Kurzum: Mingus’ letzte Band war eine der besten, die er je hatte.
Kurz nach Mingus’ Tod Anfang 1979 fanden Adams, Pullen und Richmond wieder zusammen und gründeten mit dem Bassisten Cameron Brown das George Adams-Don Pullen Quartet. Mingus’ aufrührerischer Geist war mit ihnen: der Wille zum Expressiven, der Grenzgang zwischen Groove und Free, das Unbedingte in der Improvisation. Das Adams-Pullen Quartet wurde eine der gefeiertsten Live-Bands der frühen achtzigerJahre und machte rund ein Dutzend Alben – bis zu Dannie Richmonds Tod 1988.
Die geballte Kreativität des explosiven Vierers floss auf Earth Beams in sechs überzeugende Stücke, die mit großer Power Richtung Ekstase stürmen. Adams’ Titelstück und sein „More Flowers“ sind modale, markige Kraftnummern über wechselnde Skalen – kaum jemand sonst hat diese Power damals so lebendig und selbstverständlich umgesetzt. Richmonds „Dionysus“ entwickelt sich aus Bass-Vamp und Saxofon-Riff und pendelt raffiniert zwischen Form und Free. „Magnetic Love Field“ ist ein freies Duett von Adams und Pullen, das in viereinhalb Minuten eine riesige Palette an Stimmungen und Ausdruckshaltungen durchläuft. „Saturday Night In The Cosmos“ (im 5/4-Takt und mit Flöte und Sax) und „Sophisticated Alice“ (später: „Big Alice“) haben beide einen funky Touch, passen aber in kein Klischee. Es sind zwei der schönsten Melodien, die Don Pullen geschrieben hat, und ihr Zauber hat auch die wunderbaren Improvisationen der Band erfasst.