Deutsche Grammophon entdeckt Ambient & Co.
In jüngster Zeit hat die traditionsreiche Deutsche Grammophon eine bemerkenswerte strategische Neuausrichtung vorgenommen.
Unter dem berühmten Gelblabel erscheinen zunehmend Veröffentlichungen, die gezielt eine breitere Hörerschaft ansprechen sollen. Diese Neuausrichtung manifestiert sich in einem stärkeren Fokus auf eine spezielle Art „Neuer Musik“, die bewusst auf Zugänglichkeit setzt. Die Werke zeichnen sich durch eine Mischung aus traditionellen klassischen Elementen und modernen Einflüssen aus, die oft leicht esoterische Anklänge und subtile elektronische Akzente beinhalten.
Der Aufbau dieses neuen Repertoires, das die Grenzen zwischen klassischer Musik, Ambient und experimenteller Elektronik verwischt, scheint ein bewusstes Bestreben des Labels zu sein, den Hörgewohnheiten einer Generation gerecht zu werden, die in einem digitalen Zeitalter aufgewachsen ist und einen breiteren Zugang zu verschiedensten Musikgenres pflegt. Die DG scheint hiermit einen spannenden Balanceakt zu wagen: die Tradition der klassischen Musik zu bewahren und gleichzeitig in die Zukunft zu blicken, indem neue ästhetische Wege beschritten und moderne Technologien einbezogen werden. Was aber leider auch auffällt, ist das Fehlen avantgardistischer Klangstrukturen. Werfen wir also einen Blick auf drei aktuelle Neuerscheinungen.
Mari Samuelsen – LIFE
LIFE von Mari Samuelsen ist mehr als nur ein Album; es ist ein musikalisches Tagebuch, das die tiefgreifenden Emotionen der Künstlerin während ihrer Mutterschaft einfängt. Die norwegische Geigerin, bekannt für ihre innovative Programmgestaltung, vereint auf diesem Album Werke zeitgenössischer Komponisten mit klassischer Musik und schafft so eine harmonische und doch dynamische Klangwelt. Samuelsens Auswahl reicht von den minimalistischen Klängen eines Ludovico Einaudi bis hin zu den emotionalen Tiefen eines Max Richter, angereichert durch den Einfluss von Künstlern wie Nils Frahm und Jóhann Jóhannsson. Auch klassische Stücke wie Schuberts Ave Maria fügen sich nahtlos in das Konzept ein. Samuelsen wird von den Streichern von Scoring Berlin unter Jonathan Stockhammer unterstützt, was dem Album eine orchestrale Fülle verleiht, die mitunter leicht süßlich anmutet, ohne jedoch ins Kitschige abzugleiten. Besonders beeindruckend ist, wie Samuelsen es schafft, die Intimität der persönlichen Erfahrungen mit universellen Gefühlen zu verbinden.
Einaudi, Richter, Schubert u. a. – LIFE
Mari Samuelsen, Scoring Berlin, J. Stockhammer u. a.
Label: Deutsche Grammophon
Format: LP, LP + sign. Artprint, CD, Stream, DL
Joe Hisaishi In Vienna
Der japanische Komponist Joe Hisaishi, bekannt für seine ikonische Filmmusik, setzt mit dem aktuellen Album Joe Hisaishi In Vienna seinen erfolgreichen Weg bei der Deutschen Grammophon fort. Aufgenommen mit den Wiener Symphonikern im berühmten Musikverein, zeigt dieses Album Hisaishi von einer neuen, klassischeren Seite. Seine Zweite Sinfonie und die Viola Saga sind tiefgründige Werke, die Hisaishis Fähigkeit unterstreichen, Musik zu komponieren, die sowohl organisch als auch strukturell komplex ist. Die Sinfonie ist geprägt von melodischen Linien, die Hisaishis Filmmusik zugrunde liegen, jedoch erweitert er hier seinen Ansatz durch sinfonische Strukturen. Viola Saga stellt die Bratsche in den Mittelpunkt und zeigt Hisaishis Meisterschaft im Umgang mit solistischen Instrumenten, die in einen größeren orchestralen Rahmen eingebettet sind. Das Album verbindet westliche klassische Musiktraditionen mit der feinen Sensibilität der japanischen Musik und schafft so ein Werk, das sowohl im Konzertsaal als auch im intimen Hörerlebnis funktioniert, vor allem dann, wenn der Solopart so eindringlich wie hier von Antoine Tamestit gespielt wird.
Joe Hisaishi – Sinfonie Nr. 2 & Viola Saga
Antoine Tamestit, Wiener Symphoniker, Joe Hisaishi
Label: Deutsche Grammophon
Format: 2 LPs (auch als Crystal Clear oder sign. White Label Vinyl Ed.), CD, Stream, DL
Dustin O’Halloran – 1 0 0 1
Mit 1 0 0 1 begibt sich der Oscar-nominierte Komponist Dustin O’Halloran auf eine introspektive Reise, bei der es um die Verbindung von Natur, Technologie und menschlichem Bewusstsein geht. Das in den RRO Studios in Reykjavík entstandene Album ist eine Erkundung der komplexen Wechselwirkungen zwischen diesen Themen, und das Ergebnis ist ein Werk, das sowohl tiefsinnig als auch atmosphärisch dicht ist. O’Halloran, bekannt als Teil des Duos A Winged Victory for the Sullen, bringt auf diesem Album seine Vorliebe für Ambientmusik in einen neuen, elektronisch angereicherten Kontext. Unterstützt von Paul Corley (Sigur Rós) bei der elektronischen Produktion und Bryan Senti an der Violine sowie einem achtstimmigen Chor und dem Budapest Art Orchestra, schafft O’Halloran Klanglandschaften, die zum „bewussten Hören“ einladen. Der Hörer wird aufgefordert, das Album als ein Ganzes zu erleben, ähnlich wie man sich Zeit nimmt, ein Kunstwerk zu betrachten. Diese Herangehensweise lädt zu einer tiefen Auseinandersetzung mit den philosophischen Fragen ein, die unsere moderne Welt prägen. 1 0 0 1 ist ein Album, das nicht nur musikalisch, sondern auch intellektuell herausfordert.
Dustin O’Halloran – 1 0 0 1
Brian Senti, Budapest Art Orchestra u. a.
Label: Deutsche Grammophon
Format: LP, LP + sign. Artcard, CD, Stream, DL
Ein zweischneidiges Schwert
Die neue Reihe von Deutsche Grammophon, die darauf abzielt, zeitgenössische Musik mit klassischen Wurzeln einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, ist zweifellos ein ambitioniertes und interessantes Projekt. Allerdings bringt diese Neuerfindung der klassischen Musik auch Herausforderungen mit sich. Eine davon ist die Gefahr der musikalischen Redundanz. Während die ausgewählten Kompositionen zweifellos von hoher Qualität sind, kann man in einigen Fällen eine Wiederholung thematischer und stilistischer Muster feststellen, die das Gefühl erzeugen, dass die Alben manchmal mehr atmosphärische Stimmung als musikalische Substanz bieten. Besonders bei der Kombination von elektronischen und klassischen Elementen besteht die Gefahr, dass die Innovation auf der Strecke bleibt und sich bestimmte Klangstrukturen wiederholen, ohne neue Akzente zu setzen. Deutsche Grammophon wagt hier einen Balanceakt, der durchaus faszinierend ist, aber in einigen Fällen noch feiner austariert werden könnte, um die kreativen Möglichkeiten vollständig auszuschöpfen.