Der neue Prog – Formrevolutionen im Jazz
Thema, Soli, Thema: Das war jahrzehntelang die Standardform aller Stücke im Mainstream-Jazz. Keine Frage: Es sind spannendere Abläufe denkbar – und der Jazz beginnt sie endlich zu entdecken. Wird Jazz der neue Prog?
Nichts gegen einen knackigen Drei-Minuten-Song, eine kompakte Rock- oder Shuffle-Nummer, sozusagen die elementare Currywurst auf der musikalischen Speisekarte. Hat was! Aber weil sich unser Klang-Appetit auf Dauer mit Fastfood-Formaten nicht zufriedengibt, entstand vor 40 Jahren der Progressive Rock. Mit ausgedehnten Improvisationen und einer Armada an Instrumenten. Mit wechselnden Rhythmen und wechselnden Sounds, dynamischen Sprüngen, eingebetteten Episoden und Klassik-Elementen. Mit Brüchen, mit Kontrasten und Umdeutungen … und natürlich mit diesen schön langen, psychedelischen Seelenreisen!
Nicht nur die oft bemäkelten Konzept- und Doppelalben hat der ProgRock hervorgebracht, auch Bandwurm-Stücke von 20 Minuten oder mehr. Wer erinnert sich nicht an „Supper’s Ready“ von Genesis, dieses 23-Minuten-Wechselbad zwischen Pathos und Parodie? An die ebenso langen, bewusstseinserweiternden Psychotrips „Echoes“ oder „Atom Heart Mother“ von Pink Floyd? An King Crimsons mehrteiligen „Lizard“, Jethro Tulls Monstrum Thick As A Brick, an die esoterischen Tales From Topographic Oceans von Yes oder die kultigen „Tubular Bells“ von Mike Oldfield? Verglichen mit diesen höchst wechselvollen Artefakten erscheint uns die formale Anlage eines konventionellen Jazzstücks geradezu primitiv und einfallslos. Da folgt Chorus auf Chorus derselben Art, man improvisiert einfach nur der Reihe nach zum immer gleichen Sound und Beat, sorgt sich bloß um die Qualität des eigenen Solos und spielt am Ende wieder mit allen zusammen das Thema. Falls das Tempo überhaupt mal innerhalb eines Stücks variiert wird, dann nur versehentlich, weil der Drummer schleppt. Und sollte die Dynamik tatsächlich einen Bruch aufweisen, dann darum, weil sich Klavier und Schlagzeug kurzzeitig etwas zurückhalten, damit eben auch der Bassist sein Solo spielen kann.
Gibt es Abhilfe gegen so viel tumbe Gleichförmigkeit im Jazz? Am ehesten wohl durch ein kleines, wendiges, eingespieltes Ensemble, das einerseits kräftig losjazzen kann und andererseits auch Brüche und Überraschungen leicht in den gemeinsamen Griff bekommt. Es ist kein Geheimnis, warum vor 10 Jahren die Klaviertrios im Jazz plötzlich so populär wurden: Sie haben den Mainstream-Jazz endlich vom miefigen Chorus-Einerlei befreit, allen voran das Esbjörn Svensson Trio (e. s. t.). Die drei Schweden spielten Rock-Trips in Jazz-Besetzung und fanden Metal-Rhythmen ebenso spannend wie ternären Swing. Da ging es nicht mehr um den sturen Solistenreigen, sondern um den großen Sog und den überraschenden Umschwung: ProgJazz.
Nach Svenssons Tod (2008) machten sich seine beiden Nebenleute selbstständig. Bassist Dan Berglund lieferte als Erster und hat mit seiner Band Tonbruket bereits das zweite Album eingespielt: Dig It To The End. Anders als bei e. s. t. wird der Bezug zum Prog hier nun auch in der Klangpalette deutlich: Zwar hält Berglund dem akustischen Jazzbass weiterhin die Treue, doch der Steelguitar-Spezialist und Hauptkomponist der Band, Johan Lindström, schlägt massive Brücken in eine rockige Soundwelt. Sein Opener „Vinegar Heart“ besitzt im Grunde schon alles, was ein Prog-Klassiker braucht: einen harten Beat (binär) und ein hymnisch-dramatisches Thema, nach eineinhalb Minuten den ersten Umschwung in eine Out-of-tempo-Collage (bluesig), dann die Wiederaufnahme des Themas in sanfter Sounddynamik und mit gedämpftem Schlagzeug, bei 5:30 einen Aufbruch ins Heftige mit einer souverän jazzrockigen Gitarren-Improvisation, schließlich bei 8:30 erneut einen Bruch und einen kurzen thematischen Ausklang. Das hat nichts mehr von der formalen Anlage des Mainstream-Jazz, vermeidet aber beim Bass und Schlagzeug die typischen Rockmuster. Ähnlich überzeugend kurvt der Sechsminüter „Trackpounder“ durchs Gelände: mit angedeuteten Heavy- und Rock-’n’-Roll-Sounds, psychedelischen Passagen, hypnotischen Grooves, knalligen Dynamiksprüngen und unwiderstehlichem Pink-Floyd-Sog: „One Of These Days“ lässt grüßen. Neun weitere Stücke bieten mal folkige, mal nostalgische, aber vor allem ohrwurmige Varianten eines neuen Jazzkonzepts ohne Stilgrenzen.
Als US-amerikanisches Gegenstück zu e. s. t. glänzen seit dem Jahr 2000 The Bad Plus. Deftig und demonstrativ zerpflückt das Klaviertrio aus Minneapolis die Formalismen der Jazz-Konvention und macht schon mit seinen Stück-Adaptionen aus Pop und Rock klar, dass es gewisse andere Bezugspunkte kennt: Black Sabbath etwa, Yes, Pink Floyd, Rush, Queen, auch Nirvana, Blondie oder die Pixies. Die zehn Nummern auf Suspicious Activity? entfalten viel Groove, Wucht und Pathos, entwickeln sich aber sprunghaft und völlig unvorhersehbar. Während das schwärmerische Thema von „Knows The Difference“ zum Beispiel erst nach fünf Minuten zu einer rhythmischen Form findet, bildet „The Empire Strikes Back“ von Anfang an eine anarchische und virtuose Collage aus Motiven, Stilen und Rhythmen. Zuweilen formen Rockgroove und freie Free-Improvisation im Wechsel miteinander seltsame Suitenformen aus – oder sie laufen gar simultan nebeneinander her. Scheinbar harmlos beginnt der Opener „Prehensile Dream“, vorsichtig und pseudoklassisch. Er steigert sich jedoch zu gewaltiger Dramatik, bricht nach etwa fünf Minuten abrupt ab – um dann aber auf höchster Alarmstufe noch fast zwei Minuten lang weiterzudonnern, ehe er sich beruhigt. Ein grandios anschwellender Albtraum der raffinierten Sorte: akustischer Klaviertrio-Prog.
In Zürich, wo die Formation im Jahr 2001 gegründet wurde, ist Ronin schon lange Kult: Jeden Montagabend spielt die Band dort im Musikclub „Exil“ in der Hardstraße. Inzwischen hat auch das internationale Publikum die süchtig machende Beschwörungskraft des Schweizer Jazzquintetts entdeckt. Minimalistisch wirkt die Musik über weite Strecken, auch wenn in der Textur komplexe metrische Wechsel und Überlagerungen versteckt sind. Die repetitiven Spielmuster des Pianisten Nik Bärtsch geben die Stimmung vor, die anderen Akteure treten nach und nach hinzu, meditativ schnurrt die Bassklarinette, geduldig wächst der hypnotische Sog, allmählich schließen sich die musikalischen Schichten: eine zu Musik gewordene Zen-Meditation. Es sind Klangentwicklungen von großem Atem und unwiderstehlicher Kraft, immer rhythmisch pulsierend, angenehm harmonisch, lange Zeit unscheinbar – und doch unterschwellig enorm verführungsstark. Dann plötzlich steigt die Musik auf eine andere Dynamikstufe, wird offensiv funky, wechselt Grundmuster und Sound, als spränge mit einem Mal das Licht um. Die schönsten dieser Klanglichtwechsel bietet das Album Holon: sechs Stücke mit einer Durchschnittslänge von über neun Minuten. Im Konzert fügen sich Bärtschs Nummern oftmals nahtlos aneinander und wachsen zur sanften Massenhypnose an. Und manchmal ertappt man sich als Hörer dabei, dass man auf die Gitarre von David Gilmour wartet.