Deep Purple – Child In Time
Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack.
In den frühen 1970er Jahren war eine Teenager-Party nicht komplett ohne dieses Stück. „Child In Time“ (10:16) mit seinem sanften, geheimnisvollen, jazzigen Einstieg (Jimmy-Smith-Orgel und Becken!) galt als der ideale Stehblues oder Engtanz-Schieber. Jedenfalls bis zur Vier-Minuten-Marke – denn dann kippt dieser Song um in einen schnellen, ekstatischen Shuffle-Rhythmus mit entfesseltem Gitarrensolo. Damals waren die Jugendlichen nicht hip genug, um diesen Teil irgendwie „wegzutanzen“ – und die DJs nicht professionell genug, um ihn irgendwie zu überspringen. Das Stück wurde nach vier Minuten meist mitleidlos ausgeblendet. Merke: Progressive Rock ist keine Disco-Musik.
Heute wissen es alle: Der sanfte Orgelteil war geklaut. Jon Lord, der Keyboarder von Deep Purple, hatte „Bombay Calling“ gehört, einen Song vom 1969er Debütalbum der US-Band It’s A Beautiful Day – und er hatte begonnen, mit der musikalischen Idee dieses Stücks herumzuspielen. (Es ist ein einfacher, aber effektiver Wechsel von a-Moll nach G-Dur und wieder zurück zu a-Moll.) „Jon war fasziniert von diesem ‚ting-ting-ting‘“, berichtet Ian Gillan, der Sänger. „Es klang gut, und wir fanden, wir sollten es ausprobieren, ein wenig daran ändern und etwas Neues hinzufügen. Ich habe das Originalstück ‚Bombay Calling‘ nie gehört.“
Also begannen Deep Purple über die Grundfigur (acht Takte) zu jammen, auch auf der Bühne beim Soundcheck, und Ian Gillan improvisierte einen Text dazu. „Die Worte fielen mir einfach ein. Wir dachten damals viel an die Atomkriegsgefahr, die über uns schwebte – es war der Höhepunkt des Kalten Kriegs. Der Song reflektiert die Stimmung der damaligen Zeit, und deshalb wurde er so populär.“ Auch Bilder vom Vietnamkrieg spukten 1970 durch die Hirne – hilflose Kinder unter Feuerbeschuss. Nicht wenige Englischlehrer wurden von ihren Schülern auf Gillans Verse angesprochen.
In „Child In Time“ kommen alle Frontleute von Deep Purple auf ihre Kosten. Jon Lord improvisiert eingangs über sein „ting-ting-ting“ drei Strophen lang auf der Orgel – und in der Reprise ab 6:06 noch einmal 16 Takte. Ritchie Blackmore hat ein wildes Gitarrensolo im galoppierenden zweiminütigen Mittelteil – ausnahmsweise auf seiner Gibson, wahrscheinlich wegen des „jazzigeren“ Sounds in den Orgelpassagen. Und Ian Gillan singt seine vier Strophen und danach einfach weiter ohne Worte: zwei Durchgänge mit „uuuh“, zwei Durchgänge mit „aaah“ und zwei mit einem hohen Kreischen. Das Kreischen fiel ihm ein, als die Band den Song im Konzert ausprobierte: „Die Hölle war los, und ich kreischte, das war alles. Durch diesen Song und mithilfe meiner engen Hose erfand ich meinen speziellen Schrei.“ (Wenn Gillans Stimme zu angegriffen war, strich die Band „Child In Time“ aus dem Live-Programm.)
Am Ende des ersten Teils (bei 3:20) kommt noch ein kriegerisch anmutendes Bolero-Riff (mit Achteltriolen), gefolgt von einem melodischen, vermutlich vorkonzipierten Gitarrenteil (16 Takte). Auch am Ende des schnelleren Mittelteils gibt es eine abschließende, mehrfach wiederholte Figur. Und nach der Reprise folgt dann noch eine tonal befreite Orgel-Coda (ab 9:02) mit einem stöhnenden und schreienden Ian Gillan. Fast alle Mitglieder von Deep Purple spielten „Child In Time“ später auch in anderen Formationen. Die Band It’s A Beautiful Day soll sich übrigens gerächt und ihrerseits einmal Deep Purple beklaut haben.
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