„Das hört man nur auf einer guten Soundanlage“
Sie sind die Könige des Art-Pop: Tim Bowness und Steven Wilson. Seit den achtziger Jahren beglückt das Duo seine Anhänger immer wieder mit Werken, die zwischen Elektro, Ambient und Disco beheimatet sind. Jetzt ist, nach elf Jahren Schaffenspause, mit Love You To Bits ein neues Album erschienen. Im Interview spricht Tim Bowness darüber, warum er gute Kopfhörer liebt – zu gute High-End-Anlagen aber nicht. Das Gespräch fand via Skype statt und dauerte länger als geplant. Zwischendurch kam Bowness’ Sohn ins Zimmer …
Fotografie: Carl Glover
FIDELITY: Mr. Bowness, beim Hören von Love You To Bits drängt sich diese eine Frage förmlich auf: Wie oft muss man denn „I love you“ sagen, bis die oder der Liebste es endlich glaubt?
Tim Bowness: (lacht) Bezogen auf unser Album würde ich sagen: Ungefähr 2000 Mal. Aber genau gezählt habe ich nicht. „I love you to bits“ ist ein englisches Sprichwort. Es heißt so viel wie: „Ich steh total auf dich.“ Es suggeriert aber auch, dass man jemanden so sehr liebt, dass er oder sie auseinanderfällt. Genauso doppeldeutig ist auch das Album. Es enthält die simpelsten Pop-Songs, die no-man je gemacht hat. Gleichzeitig ist es aber auch eines der raffiniertesten Alben. Je weiter es voranschreitet, desto komplexer wird es. Genau wie das auch in einer Beziehung abläuft.
FIDELITY: Offiziell enthält das neue Album zehn Lieder. Den Namen nach sind es aber eigentlich nur zwei Stücke, „Love you to Bits“ und „Love You to Pieces“, unterteilt in fünf „bits“ und fünf „pieces“. Wie kommt ihr auf sowas?
Tim Bowness: Die ersten Songideen zu Love You To Bits hatten wir schon im Jahr 1994. Aber irgendwas hat immer gefehlt. Wir wollten unbedingt ein Album herausbringen, auf dem wir nur einen Song in all seinen Facetten zeigen, und deshalb sind alle Songs von einer wiederkehrenden Melodie durchzogen. Je nach Hörer ist Love You To Bits deshalb eine Platte mit einem, zwei oder zehn Songs, das kann jeder für sich entscheiden.
FIDELITY: Was hat denn vorher gefehlt?
Tim Bowness: Wir hatten schon zig Varianten des Lieds aufgenommen. Manche gingen nur über vier, andere über dreizehn Minuten. Aber wir waren musikalisch nicht weit genug. Jetzt hat sich sowohl die Musik von mir als auch die von Steven in eine viel dynamischere und elektronischere Richtung gewandelt. Und die brauchten wir für das Album. In einer alternativen Realität ist Love You To Bits nämlich der Nachfolger von Flowermouth, unserem zweiten Album, das wir Mitte der 90er Jahre aufgenommen haben. Mit Love You To Bits wollten wir diese Ära wieder auferstehen lassen.
FIDELITY: „I love you to bits“ und „I love you to pieces“ sind nicht nur die Namen von je fünf Tracks. Es ist auch der rote Faden, der sich durch alle Songs zieht. Wie lange sitzen Sie als Songwriter an einer so wichtigen Zeile?
Tim Bowness: Ich habe zu Hause einen Songtext-Ordner, in dem ich über 25 Jahre hinweg Ideen gesammelt habe. Und ja, ich habe 2000 Mal „I love you to bits“ untergebracht – aber auch sonst ist da echt viel Text auf dem Album. (lacht) Meine Idee war, alle Perspektiven einer Beziehung darzustellen. Je eine pro Protagonist. Und eine dritte Perspektive, die die beiden miteinander teilen. Das ist der Blickwinkel, den viele vergessen. Denn in einer Beziehung fühlt und sieht man ja durchaus die gleichen Dinge.
FIDELITY: Lieder über Beziehungsdramen zu schreiben ist das eine. Aber no-man widmet dem Thema ja eine ganze Platte. Ist das nicht ungeheuer intim für Sie?
Tim Bowness: Natürlich. Aber so funktioniert Musik. Du musst dich öffnen, sonst geht das nicht. Wenn ich etwas schreibe, fließen immer persönliche Erfahrungen mit ein, aber es ist nie biografisch. Ich bin vielmehr ein Regisseur, der seinen eigenen Film dreht. Für das Album habe ich Charaktere geschaffen, in die ich mich selbst hineinversetzen wollte.
FIDELITY: Die Alben von no-man hatten fast alle ein übergeordnetes Thema. Der Sound jedoch variiert auf jeder Platte. Manche Synthesizer auf dem aktuellen Werk sind so aggressiv, dass sie fast an Song-Intros von Rammstein erinnern. An anderen Stellen klingt ihr dann nach Depeche Mode oder vielleicht sogar Frankie Goes To Hollywood. Eine interessante Kombination …
Tim Bowness: Die Leute haben die wildesten Eindrücke zu unserer Musik. Mancher meinte schon, wir hören uns an wie Miles Davis oder auch wie Donna Summer. Ich mag das total. Es zeigt, dass unsere Musik bei vielen Menschen etwas auslöst, dass sie ihnen etwas bedeutet. Steven und ich reden zwar gerne lange darüber, wie wir klingen wollen. Aber eigentlich handeln wir dann immer aus dem Bauch heraus.
FIDELITY: Wie läuft das ab?
Tim Bowness: Ein Beispiel – als ich mir die fast fertige Überleitung von „Love You To Bits“ zu „Love You to Pieces“ anhörte, hatte ich plötzlich das Gefühl: Hey, da ist doch noch Platz für eine Blaskapelle. Steven fand die Idee auch toll. Innerhalb von einer Woche hatte ich dann eine Blaskapelle organisiert, und die hat die neue Passage eingespielt. Übrigens einer meiner Lieblingsmomente des Albums.
FIDELITY: Wie, würden Sie sagen, klingt no-man nach über 30 Jahren Bandgeschichte heute?
Tim Bowness: Die Frage war noch nie so schwer zu beantworten. Ich habe mal aus Spaß gesagt: Stell dir einen Elektropop-Song vor, der völlig auf die Spitze getrieben wird. Das neue Album lässt sich in kein Raster einordnen: Weder Elektropop noch Progressive Rock noch Electric Symphony. Es ist vielleicht eher alles gleichzeitig.
FIDELITY: Der Song „Rainmark“ von Ihrer Soloplatte Flowers on The Scene entstand, als Sie Ihrem Sohn bei den Musikhausaufgaben helfen wollten und ein paar Noten auf der Ukulele gespielt haben. Entstand auch das neue Album aus einer Nachhilfesession heraus?
Tim Bowness: Mein Sohn lernt gerade Gitarre und Keyboard. Da unterstütze ich ihn natürlich auch hin und wieder. Ich zeige ihm Sachen auf der Ukulele, er kann auch bereits darauf spielen. Musikalische Früherziehung. Das bedeutet aber auch: Ich habe noch eine Menge weiterer Lieder an der Ukulele geschrieben. Alles aber noch unveröffentlicht!
FIDELITY: Wird es denn mal eine no-man-Platte geben: „The Ukulele Sessions“?
Tim Bowness: Schöne Idee! Wahrscheinlich aber nie. Aber einen Namen hätte ich schon: „Ukulele Magic“. Tim Bowness’ persönliche Ukulele-Collection von Schlager-Hits. (lacht)
FIDELITY: Das hätte in Deutschland natürlich absolutes Bestseller-Potenzial.
Tim Bowness: Und das ist genau das, was ich erreichen will. Schöne Vorstellung, oder?
FIDELITY: Was beim neuen Album auffällt, ist, dass Ihre Stimme im Laufe der Lieder diversen Effekten ausgesetzt ist. Mal zerhackt, mal blechern, mal gepitcht.
Tim Bowness: Meine Texte erzählen eine Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Die Effekte unterstützen das. Ich habe im Hintergrund ganz viele Sounds mit meiner Stimme erzeugt. Die meisten halten sie für Synthesizer oder Keyboards. Aber nein: Das ist meine Stimme. Das hört man nur auf einer echt guten Soundanlage.
FIDELITY: Wo Sie gerade von HiFi-Sounds sprechen – wie sollte man Werke von no-man am besten abspielen und hören?
Tim Bowness: No-man war immer klassische Kopfhörer-Musik. Aber dieses Album ist anders. Es kann immer noch über Kopfhörer gehört werden, ja. Love You To Bits macht aber auch Spaß, wenn es einem aus guten Soundboxen regelrecht entgegenwummert. Ich persönlich liebe es, beim Musikhören tief in die Klangwelten der Künstler einzutauchen. Deshalb bleibe ich Kopfhörer-Fan. Ich habe aber auch eine echt tolle HiFi-Soundanlage zu Hause: Gute Musik auf einer Top-Anlage zu hören ist einfach eine Offenbarung. Die Musik klingt viel frischer. Deshalb kann ich dem auch nicht viel abgewinnen, wenn Menschen Musik über die Lautsprecher ihres Smartphones hören.
FIDELITY: Ist eine gute Soundanlage auch ein Zeichen für Wertschätzung von Musik?
Tim Bowness: Nicht jeder hat eine coole Anlage, das ist klar. Deshalb muss Musik auch immer so gestaltet sein, dass sie auf einfachsten Geräten begeistern kann. Als Kind hatte ich auch nur ein Katastrophen-Gerät zu Hause. Trotzdem habe ich Musik schon damals geliebt. Ich glaube, wenn Musik echt ist, Gefühle wahrheitsgemäß vermittelt, dann wird sie die Menschen erreichen, egal aus was für Boxen sie kommt. Aber Musik hören, indem ich ein Youtube-Video über mein iPhone abspiele? Da war sogar die Qualität meines schrottigen Abspielgeräts aus Teenie-Tagen besser.
FIDELITY: Ihr Kollege Steven Wilson war letztes Jahr Markenbotschafter der HiFi-Messe HIGH END in München. Treiben Sie sich auch auf solchen Messen herum?
Tim Bowness: Auf einer Messe war ich noch nie, nein. Mir gefallen die Anlagen am besten, die zwischen 500 und 2000 Pfund kosten. Denn bei den Geräten, die bei 10 000 Pfund aufwärts starten, wird jedes Detail, jeder minimale Fehler in der Aufnahme sofort wahrgenommen. Mir ist deshalb klar geworden: Ich liebe den Sound guter HiFi-Soundanlagen – aber zu gut dürfen sie nicht sein. (lacht)
FIDELITY: Immer wieder brechen unerwartete Klänge eure Lieder auf. In „Love you to Bits (Bit 4)“ setzt etwa Mitte des Songs eine Gitarre ein, die wechselnd zwischen verzerrtem Gitarrensolo, Störgeräusch, Sirene und Faxgerät einzuordnen ist. Was habt ihr euch dabei gedacht?
Tim Bowness: Eigentlich war in dieser Sequenz ein Saxofon-Solo platziert. Aber als Steven und ich uns das angehört haben, da dachten wir beide: Das hat noch nicht den richtigen Biss. Dann haben wir uns den slowakischen Gitarristen David Kollar dazu geholt. Er hat uns dann ein echt cooles Solo hingelegt. Aber das war uns noch immer zu musikalisch. Wir meinten dann zu ihm: Gib uns mehr, mehr, mehr, noch mehr!! Das, was da auf dem Album zu hören ist, ist der dritte Versuch von David, das Solo zu spielen …
Das Interview findet via Skype statt und dauert zu diesem Zeitpunkt schon deutlich länger als geplant. Hinter Bowness geht die Tür auf, sein Sohn lugt hinein, ein aufgeweckter Junge im Grundschulalter, und drängelt: „Mama denkt, dass du immer noch mit dem ersten Interviewer redest. Wolltest du nicht lange fertig sein?“
Tim Bowness: Danke für den Hinweis, Honey. Entschuldigung, das war der kleine Ukulele-King. Wo war ich eben?
FIDELITY: Bei dem Gitarren-Solo von David Kollar.
Tim Bowness: Ach ja. Genau. Seine ersten beiden Solos, die er uns eingespielt hat, waren klasse. Ehrlich. Aber sie waren zu melodiös. Und dann hat David ein Solo rausgehauen, bei dem er dachte, dass wir es sofort ablehnen würden. Aber genau das hat Steven und mir gefallen. Das hat Steven und mich schon immer verbunden: Wir teilen den gleichen übertriebenen Musikgeschmack. Und es war uns beiden nie unangenehm, neue musikalische Pfade zu suchen. Der Wandel, den wir vom letzten no-man-Album Schoolyard Ghost zum jetzigen Album hingelegt haben – der wäre mit keinem anderen Produzenten der Welt möglich gewesen. Und ich habe schon wieder neue Songs im Kopf, die ganz anders klingen.
FIDELITY: Also werden bis zum nächsten no-man-Album nicht wieder 11 Jahre vergehen?
Tim Bowness: Ich hoffe. Wir haben jetzt wirklich jegliche Pfeile verschossen, die wir noch im Köcher hatten. Wir haben keine alten Ideen aus den 1980ern und 90ern mehr, die wir noch unbedingt verarbeiten wollen. Wenn wir also das nächste Mal ins Studio gehen, dann starten wir bei null. Für mich ist das total aufregend.
FIDELITY: Nun haben sich die Produktionsstandards in der Musikindustrie seit Ende der 80er sicherlich verändert. Macht es das eigentlich einfacher, einen eigenen Sound zu finden?
Tim Bowness: Letztlich haben diese technischen Spielereien genauso viele Probleme mit sich gebracht, wie sie eigentlich lösen sollten. Ich habe mich davon nicht beeinflussen lassen. Beim Songwriting waren es immer ich und meine Gitarre … Oder meine Ukulele.
Dream-Pop, Prog-Rock, Electronic … oder Chamber-Jazz? Die Musik von no-man ist schwer zu fassen, obwohl das Duo aus Sänger und Songschreiber Tim Bowness und Produzent Steven Wilson bereits seit 1987 zusammenarbeitet. Das neue Album Love You To Bits ist das siebte Studiowerk und das erste nach elf Jahren. Es besteht aus zwei fünfteiligen Tracks („Love You To Bits“ und „Love You To Pieces“) und verbindet schimmernden Pop und pulsierende Elektro-Sounds unter Verwendung von Stilelementen wie Fusion und Ambient. Als Gäste sind Adam Holzman, David Kollar, Ash Soan, Pete Morgan und das Dave Desmond Brass Quintet zu hören. Multiinstrumentalist Steven Wilson ist dazu auch bekannt als Gründer der Progressive-Rockband Porcupine Tree sowie als Produzent unter anderem von Marillion, King Crimson und Emerson Lake & Palmer. Im Herbst 2020 wird Wilson auf Solo-Tour durch Deutschlands unterwegs sein.
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