Classidelity Reviews – Zart besaitet
Viermal Saitenkünste: Solo, Duo und im Orchester, alt und neu, gestrichen und gezupft – die ganze Vielfalt
Wer keinen Draht zu klassischer Gitarre hat, der besuche ein Festival. In Deutschland gibt es mehrere, und sie strotzen nur so von Stars. Alljährlich trifft sich die Gitarren-Weltelite in Iserlohn, Koblenz, Nürtingen – um nur die wichtigsten Veranstaltungsorte zu nennen. Was dort an den Konzertabenden geboten wird, dürfte manchen auf das übliche Klassik-Quartett (Geige, Cello, Klavier, Gesang) fixierten Musikliebhaber glatt vom Stuhl hauen. Mich erwischte es beim Gitarren-Symposion Iserlohn. Dort sah ich auch erstmals Roland Dyens, längst eine Legende, obwohl noch keine 60. Der Franzose schreibt Musik von hintergründigem Witz, spielt dazu noch selbst virtuos und ist überhaupt ein höchst charmanter und charismatischer Zeitgenosse. Wo auch immer seine Werke auf Tonträger erscheinen, ist seitdem meine Aufmerksamkeit geweckt.
Präsent und perkussiv
Das kanadische Gitarrenduo ChromaDuo (Tracy Smith und Rob MacDonald) hat zwei Stücke von Roland Dyens ans Ende seiner Debüt-CD Hidden Waters (Naxos 8.572757) gestellt. Eine gute Wahl, denn das fürs ChromaDuo geschriebene Niterói und das dreisätzige Comme des grands sind Kompositionen von starker Präsenz, mal fetzig mit Percussion-Effekten (Niterói), mal eher nostalgisch, musikalisch fast sepiagetönt (Comme des grands). Davor stellt das Duo neue, teils auch wieder selbst in Auftrag gegebene Werke von Stephen Goss und Christopher William Pierce. Auch deren Musik lässt aufhorchen, diesmal durch geschmackvoll verarbeitetete Einflüsse, die von Johann Sebastian Bachs Fugenkunst über Gipsy-Swing bis zu Pop-Zitaten reichen. Sehr angenehm, nur frische Originalkompositionen und keine Transkriptionen von altbekannt populärem Repertoire zu hören. Das Spiel des ChromaDuo ist ausgesprochen feinsinnig und kultiviert, die Kommunikation nichts weniger als perfekt. Klangliebhaber werden den bestens ausbalancierten Nachhall des Aufnahmeorts goutieren, einer Kirche in Ontario, sowie den Klang der Gitarren des Duos, die aus Werkstätten zweier der derzeit weltweit renommiertesten Gitarrenbauer stammen: Matthias Dammann und Boguslaw Teryks.
Humpe und der Rabe
Hätte ich die folgende (SA)CD beachtet, wenn ich nicht gesehen hätte, dass Inga Humpe zu den Mitwirkenden gehört? Aber ja, denn auch der Titel weiß geschickt Interesse zu wecken: The Raven – Nevermore (audite 92.687). The Raven, das berühmte Grusel-Gedicht von Edgar Allan Poe, ein großartiger Klassiker – wer’s noch nicht kennt: Unbedingt lesen!
Inga Humpes Stimme ist leider nur auf dem ersten Track zu hören. Ich bin der Welt abhanden gekommen heißt das kurze Orchesterlied – klingt nach Gustav Mahler, ist aber eine eigene Vertonung des Gedichts von Friedrich Rückert aus den Federn von Inga Humpe und des Komponisten Moritz Eggert (Jahrgang 1965) – seinen Werken ist die gesamte CD gewidmet. Ich habe diese äußerst gelungene Version des Rückert-Liedes während des Rezensionszeitraumes sicher zehnmal gehört, was einiges verrät über die Eingängigkeit der wehmütigen Harmonien und die Attraktivität der filmabspannmäßigen (Melodrama!) Orchesterarrangements (mit E-Gitarre!). Die CD kann man allein schon wegen dieses Songs kaufen.
Neu und gut
Wer neugierig ist auf gut klingende Neue Musik (und davon gibt es leider viel zu wenig), der dürfte auch an den folgenden Tracks seine Freude haben. Was da aus Eggerts Schaffen zu hören ist, hat nichts mit dem intellektuellen Ton-und-Geräusch-Pointillismus vieler seiner Kollegen zu tun, sondern weiß auch „ungeübtes“ Publikum zu erreichen. Dass man gelegentlich Anklänge an populäre Komponistenkollegen wie Arvo Pärt oder Philip Glass zu erkennen meint, ist beileibe kein Manko, sondern ein Vorteil. Überhaupt schafft es Eggert erfreulich oft, den Geist in Assoziationen abschweifen zu lassen: Könnte An Answered Question für Streichorchester einem David-Lynch-Soundtrack entstammen? Hat an der Orchesterminiatur Der Ewige Gesang Samuel Barber mitgeschrieben? Eine Aufnahme um das Gehör zu schärfen und die Sinne zu wecken.
Knapp 60 Jahre liegen zwischen den beiden folgenden Geigen-CDs. Man hört es ihnen weit weniger an als vermutet – das liegt an der phänomenalen Qualität der alten Aufnahme. 1952 hat Erica Morini im Berliner Titania-Palast – einst Spielort der Philharmoniker, heute ein Kino – mit dem RIAS-Symphonieorchester live das Violinkonzert von Peter Iljitsch Tschaikowsky eingespielt. Erica Morini war, neben Ginette Neveu, vielleicht die erste Geigerin von Weltruhm. Die Wienerin stand auf allen bedeutenden Konzertbühnen Europas und der USA und nahm schon seit den 20er Jahren Schallplatten auf.
Die Solistin führt
Am 13. Oktober 1952 warf sich Erica Morini, reife 47 Jahre alt, mit der ganzen Wucht ihrer ureigenen Musikalität in Tschaikowskys hochvirtuoses romantisches Schlachtross. Mit den ersten Noten ist klar, dass hier die Solistin die Kontrolle und das Orchester gefälligst zu parieren hat. Erica Morini nimmt das Konzert mit Schwung und dramatischem Ernst. Sie ist keine leichtfüßige Gleiterin über die Noten, vielmehr eine, die mit ihrem Part in den Clinch geht. Es mag klangschönere Aufnahmen des Werks geben, doch ein besseres Gefühl für die physische und musikantische Auseinandersetzung einer Interpretin mit einem fordernden Werk dürfte kaum zu finden sein. In der Folge erweist sich die CD (audite 95.606) dann als Berg- und Talfahrt – beziehungsweise andersherum, denn zuerst kommt das Tal, in Form dreier barocker Werke von Tartini und Vivaldi. Interessant zu hören ist das Spiel von Morini und ihrem Klavierpartner Michael Raucheisen allemal, zumal als Zeitdokument, doch der soliden Interpretation mangelt es an der rechten Überzeugungskraft. Leider fehlt dem Klang die stählerne Brillanz und Präsenz des Konzertmitschnitts. Das gilt zwar auch für die letzten vier Stücke, aber da spielt die Wienerin Morini Stimmungsvolles aus den Federn von Fritz Kreisler, Johannes Brahms und Henryk Wieniawski. Was kann da schiefgehen? Bei einer so geistreichen wie technisch unbeschwerten Geigerin? Richtig: nichts.
Virtuose Wendepunkte
Violinvirtuosentum des Spitzenklasse bietet auch der junge Russe Mikhail Ovrutsky. Und doch: Was für ein Kontrast zu Morini! Das Programm der Turning Points betitelten CD (Berlin Classics 0300060BC) hat Charme: Prokofjew, Tschaikowsky, Bach, Gershwin, Mendelssohn. Russland, USA und Deutschland – frei nach dem eigenen Lebenslauf, der den heute 33-Jährigen schon gut durch die Welt geführt hat. Er wurde unter anderem in New York bei der großen Dorothy DeLay ausgebildet, Lehrerin unter anderem von Itzhak Perlman und Nigel Kennedy, sowie bei Zakhar Bron in Lübeck, zu dessen Schülern Maxim Vengerov und David Garrett zählen. Ovrutskys von seiner Schwester Sonya am Flügel begleitetes Spiel ähnelt dem Gleiten eines Weltklasse-Eiskunstläufers – schwerelos schwebend, eine einzige fließende Linie, geschmeidig bis in die Fingerspitzen. Alles ist Singen, Technik spielt keine Rolle, sie dient unsichtbar ganz der Musik. Das Resultat in Verbindung mit digitaler Studioperfektion ist ein fast beängstigend makelloses Artefakt in CD-Form. Nochmal, weil es im direkten Vergleich so auffällt: Was für ein Kontrast zu Erica Morini! Den russischen Kompositionen, Prokofjews Fünf Melodien und Tschaikowskys Souvenir d’un lieu cher, verleiht Ovrutskys stets nobel-ausdrucksstarke Spielweise Gewicht und Größe – vielleicht ein wenig zu viel davon, es sind ja doch poetische Stimmungsstücke, da muss nicht jede noch so kleine Kante ziseliert werden. Dann folgt Bach, die Sonate g-Moll für Solovioline, und die Leichtigkeit, mit der er da insbesondere die Fuge durchtänzelt, das ist wiederum eine Schau. Mit der Polyphonie des Siciliano hat er’s dann zwar nicht so, aber wie er diesen Satz auf Melodie bürstet, hat dann doch auch was für sich. Dann das Presto mit herzhaftem Zugriff als Kabinettstück. Eine rasende Linie, endlich mal so etwas wie ein Prise Schärfe mit im Spiel – Geigen kann der Mann wie der Teufel!
Zugaben US-Style
Die Reise geht weiter in die USA. Die Gershwin- Arrangements aus der Feder von Jascha Heifetz sind echte Perlen von virtuosen Zugabenstücken. Reichlich Broadway ist dabei, genuin amerikanisches Showbiz – vielleicht spielt sie deswegen heute so gut wie niemand. Ovrutsky sitzen sie wie ein Maßanzug. Seine makellose Technik ermöglicht ihm, souverän über den populären Melodien aus Porgy und Bess zu stehen und sich mit ironischer Lässigkeit Heifetz’ anspruchsvolle Bearbeitungen anzueignen. Mein Favorit auf der CD. Zum Schluss, wenn es mit Mendelssohns Sonate F-Dur wieder ernsthafter zugeht, möchte man den Guten aber doch vor die Lautsprecher zerren und ihm Erica Morini vorspielen. Es lässt sich auch ohne glattpoliertes Sentiment berührend musizieren. Mehr Pfeffer und weniger Sahne, bitte!