Classidelity: Jean Sibelius
Ein unverstandener Sinfoniker wird 150
Jean Sibelius wurde 1865 im finnischen Hämeenlinna geboren. Er studierte bei dem Komponisten und Sammler finnischer Volkslieder Richard Faltin und bei Martin Wegelius, der 1882 das Musikinstitut in Helsinki gegründet hatte. Komplettiert hat Sibelius seine musikalische Ausbildung dann in Berlin und Wien, wo er bei den damals sehr bekannten Komponisten Karl Goldmark und Robert Fuchs in die Schule ging. Hier wurde auch seine Vorliebe für die Sinfonien Anton Bruckners geweckt, die sein eigenes kompositorisches Schaffen anfangs maßgeblich beeinflussten. 1891 kehrte er an die Universität von Helsinki zurück, um sich in erster Linie als freischaffender Komponist zu etablieren.
Sibelius gehört zu den wenigen Komponisten der Musikgeschichte, die nicht bis an ihr Lebensende durchkomponierten. Bereits 1929 stellt er sein kompositorisches Schaffen ein, immerhin gute 30 Jahre vor seinem Tod. Es folgten noch einige wenige Kompositionsfragmente, die aber allesamt von ihm eigenhändig vernichtet wurden.
Betrachtet man den Tonträgermarkt, so scheint es unverständlich, dass Sibelius bis Mitte der 1980er Jahr ein in Deutschland nur wenig bekannter und sogar gescholtener Komponist war. Bis auf Herbert von Karajan hat sich kaum ein deutscher Dirigent um Sibelius gekümmert, während im skandinavisches und angelsächsischen Raum nicht nur etliche Gesamtaufnahmen seiner Sinfonien entstanden, sondern auch im Konzertbetrieb seine Kompositionen zum festen Kanon gehörten. Und noch 2015 gilt es beinahe als Sensation, wenn sich Simon Rattle zu seinem 60. Geburtstag von den Berliner Philharmonikern einen kompletten Sibelius-Zyklus zu dessen 150. Geburtstag wünscht. Verfolgt man die hauptstädtischen Reaktionen auf diesen Konzertzyklus, so fallen die stereotypischen Kritikpunkte auf, die Sibelius in Deutschland schon immer begleitet haben. Moniert werden dort die angeblich immer gleichen Kompositionsstrategien, eine Kritik, die man gegen Anton Bruckner nie formulieren würde, obwohl sie bei diesem womöglich viel angebrachter wäre.
Das Verstörende an der Kompositionstechnik von Sibelius‘ Sinfonien liegt darin, dass er einerseits an der Tonalität und der gängigen harmonischen Ordnung noch festhielt, als sowohl die Schönberg-Schule als auch die französischen Impressionisten längst andere Wege beschritten hatten, andererseits aber die formale und strukturelle Konzeption seiner Werke so gar nicht in das Bild der klassisch-romantischen Konzeption von Beethoven bis Bruckner passt. Oft werden bei ihm kleinste motivische Zellen und melodische Andeutungen zu großen und mitunter auch statischen Flächen ausgebreitet, die angesichts der großen Tradition der Sonatenform oberflächlich betrachtet banal und gar monoton wirken. Bevorzugt kommen immer wieder modale Wendungen zum Tragen, die keinen harmonischen Entwicklungsprozess zulassen, Orchestrierung und dynamische Entwicklung werden als formale Kategorien eingesetzt und immer wieder kommt es zu scheinbar unfertigen Satzenden, zu Abbrüchen oder, wie etwa in der 5. Sinfone, zu satztechnischen Überlappungen, die das gewohnte sinfonische Fertigungsprinzip unterlaufen. Ganz eigen ist auch seine Instrumentierung, das Abgedunkelte der Klangfarben und die Dominanz von Holzbläsern und tiefen Streichern, die den Kompositionen jedes Apotheotische nehmen.
Glücklicherweise hat sich der internationale Tonträgermarkt nicht vom negativen Verdikt der deutschen Musikkritik beeinflussen lassen, sodass es eher schon schwierig ist, sich angesichts der vielen Einspielungen und Gesamtaufnahmen vernünftig zu orientieren. Der aktuell umtriebigste Sibelius-Dirigent ist zweifelsohne Paavo Berglund, von dem immerhin drei Gesamteinspielungen mit drei verschiedenen Orchestern vorliegen: dem Bournemouth Orchestra, dem Helsinki Philharmonic und dem Chamber Orchestra of Europe.
Die zuletzt erwähnte Aufnahme ist die gegenwärtig vielleicht modernste Sibelius-Interpretation. Das etwas kleinere Orchester sorgt für eine ungemein präzise und transparente Klanglichkeit, die das Nachverfolgen der eigenwilligen formalen Gestaltung dieser Sinfonien ungemein genau ermöglicht. Gegenentwurf hierzu ist die nicht sehr bekannte Gesamtaufnahme mit Gennady Rozhdestvensky und dem staatlichen Rundfunksinfonieorchester der UdSSR, in der die Schroffheiten und beinahe expressionistsichen Wendungen der Sinfonien betont werden. So flatterhaft expressiv hört man den ersten Holzbläsereinsatz im Kopfsatz der 3. Sinfonie in keiner anderen Einspielung.
Hörenswert ist auf jeden Fall der Vergleich der beiden Gesamtaufnahmen, die mit dem Birmingham Symphony Orchestra entstanden sind, beide Male mit jeweils jungen Chefdirigenten. Da ist zum einen Simon Rattle, der das Orchester bekanntermaßen zu Weltruhm geführt hat und die Werke in den frühen 1980er Jahren einspielte und zum anderen dessen Nachfolger Sakari Oramo, der ähnlich früh in seiner Ära die zweite Gesamtaufnahme folgen ließ. Klingt Rattles Interpretation an einigen Stellen doch noch recht plakativ und auf oberflächlichen Klangkitzel aus – was womöglich auch dem damaligen technischen Stand des Orchesters geschuldet ist und durch die Aufnahmetechnik noch verstärkt wird –, ist Oramos Deutung mehr nach innen gerichtet. Sie wirkt holographischer und leuchtet den Klangkosmos aus den Vernetzungen der sinfonischen Grundsubstanz aus.
Möchte man indes die eierlegende Wollmilchsau sein Eigen nennen, so dient sich die Aufnahme Herbert Blomstedts mit dem San Francisco Symphony Orchestra an. Ein ungemein ernsthaftes und stringentes Musizieren findet dort statt, das die klanglichen Texturen immer in Balance hält, sodass man den Eindruck hat, der Dirigent verschwinde hinter den kompositorischen Absichten des Komponisten. Dieses uneigennützige Qualitätsmerkmal ist durchaus typisch für Blomstedt, den häufig verkannten Elder Statesman des international tätigen Dirigentenzirkels. Soll es keine Gesamteinspielung sein, so sei noch auf einige herausragende Einzeleinspielungen verwiesen.
Ein unbedingtes Must-have ist Leonard Bernsteins Einspielung der 5. Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern. Mit langem Atem gelingt es Bernstein, das Statische dieser Sinfonie auszuhalten und doch die unmerkliche Entwicklung, das Ineinanderschieben der Sätze deutlich hörbar zu machen. Ohnehin ist die 5. Sinfonie am besten geeignet, um das sinfonische Prinzip des Finnen zu verdeutlichen, zumal in dieser Interpretation Bernsteins, während als Einstieg für den Sibelius-Neuling doch eher die „romantische“ 1. Sinfonie oder die kurze 3. Sinfonie zu empfehlen sind.
Unter den älteren Einzelaufnahmen, die auch noch problemlos als Vinyl beim freundlichen Antiquar um die Ecke zu bekommen sind, sollten unbedingt die klangschönen Tulips mit Herbert von Karajan beachtet werden. Die Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre entstandenen Einspielungen zeigen einen strahlenden, wuchtigen Sibelius, dessen frühes Vorbild Bruckner deutlich sichtbar wird. Besondere Authentizität hat die Aufnahme der 1. Sinfonie mit Eugene Ormandy, der als Dirigent persönlichen und freundschaftlichen Kontakt mit dem bereits greisen Komponisten pflegte.
Im Jubiläumsjahr des Komponisten bieten sich also zahlreiche Möglichkeiten, den sinfonischen Kosmos des Jean Sibelius zu durchstreifen, seiner Marginalisierung im deutschen Konzertbetrieb zum Trotz.
geboren. Er studierte bei dem Komponisten und Sammler finnischer Volkslieder Richard Faltin und bei Martin Wegelius, der 1882 das Musikinstitut in Helsinki gegründet hatte. Komplettiert hat Sibelius seine musikalische Ausbildung dann in Berlin und Wien, wo er bei den damals sehr bekannten Komponisten Karl Goldmark und Robert Fuchs in die Schule ging. Hier wurde auch seine Vorliebe für die Sinfonien Anton Bruckners geweckt, die sein eigenes kompositorisches Schaffen anfangs maßgeblich beeinflussten. 1891 kehrte er an die Universität von Helsinki zurück, um sich in erster Linie als freischaffender Komponist zu etablieren.
Sibelius gehört zu den wenigen Komponisten der Musikgeschichte, die nicht bis an ihr Lebensende durchkomponierten. Bereits 1929 stellt er sein kompositorisches Schaffen ein, immerhin gute 30 Jahre vor seinem Tod. Es folgten noch einige wenige Kompositionsfragmente, die aber allesamt von ihm eigenhändig vernichtet wurden.
Betrachtet man den Tonträgermarkt, so scheint es unverständlich, dass Sibelius bis Mitte der 1980er Jahr ein in Deutschland nur wenig bekannter und sogar gescholtener Komponist war. Bis auf Herbert von Karajan hat sich kaum ein deutscher Dirigent um Sibelius gekümmert, während im skandinavisches und angelsächsischen Raum nicht nur etliche Gesamtaufnahmen seiner Sinfonien entstanden, sondern auch im Konzertbetrieb seine Kompositionen zum festen Kanon gehörten. Und noch 2015 gilt es beinahe als Sensation, wenn sich Simon Rattle zu seinem 60. Geburtstag von den Berliner Philharmonikern einen kompletten Sibelius-Zyklus zu dessen 150. Geburtstag wünscht. Verfolgt man die hauptstädtischen Reaktionen auf diesen Konzertzyklus, so fallen die stereotypischen Kritikpunkte auf, die Sibelius in Deutschland schon immer begleitet haben. Moniert werden dort die angeblich immer gleichen Kompositionsstrategien, eine Kritik, die man gegen Anton Bruckner nie formulieren würde, obwohl sie bei diesem womöglich viel angebrachter wäre.
Das Verstörende an der Kompositionstechnik von Sibelius‘ Sinfonien liegt darin, dass er einerseits an der Tonalität und der gängigen harmonischen Ordnung noch festhielt, als sowohl die Schönberg-Schule als auch die französischen Impressionisten längst andere Wege beschritten hatten, andererseits aber die formale und strukturelle Konzeption seiner Werke so gar nicht in das Bild der klassisch-romantischen Konzeption von Beethoven bis Bruckner passt. Oft werden bei ihm kleinste motivische Zellen und melodische Andeutungen zu großen und mitunter auch statischen Flächen ausgebreitet, die angesichts der großen Tradition der Sonatenform oberflächlich betrachtet banal und gar monoton wirken. Bevorzugt kommen immer wieder modale Wendungen zum Tragen, die keinen harmonischen Entwicklungsprozess zulassen, Orchestrierung und dynamische Entwicklung werden als formale Kategorien eingesetzt und immer wieder kommt es zu scheinbar unfertigen Satzenden, zu Abbrüchen oder, wie etwa in der 5. Sinfone, zu satztechnischen Überlappungen, die das gewohnte sinfonische Fertigungsprinzip unterlaufen. Ganz eigen ist auch seine Instrumentierung, das Abgedunkelte der Klangfarben und die Dominanz von Holzbläsern und tiefen Streichern, die den Kompositionen jedes Apotheotische nehmen.
Glücklicherweise hat sich der internationale Tonträgermarkt nicht vom negativen Verdikt der deutschen Musikkritik beeinflussen lassen, sodass es eher schon schwierig ist, sich angesichts der vielen Einspielungen und Gesamtaufnahmen vernünftig zu orientieren. Der aktuell umtriebigste Sibelius-Dirigent ist zweifelsohne Paavo Berglund, von dem immerhin drei Gesamteinspielungen mit drei verschiedenen Orchestern vorliegen: dem Bournemouth Orchestra, dem Helsinki Philharmonic und dem Chamber Orchestra of Europe.
Die zuletzt erwähnte Aufnahme ist die gegenwärtig vielleicht modernste Sibelius-Interpretation. Das etwas kleinere Orchester sorgt für eine ungemein präzise und transparente Klanglichkeit, die das Nachverfolgen der eigenwilligen formalen Gestaltung dieser Sinfonien ungemein genau ermöglicht. Gegenentwurf hierzu ist die nicht sehr bekannte Gesamtaufnahme mit Gennady Rozhdestvensky und dem staatlichen Rundfunksinfonieorchester der UdSSR, in der die Schroffheiten und beinahe expressionistsichen Wendungen der Sinfonien betont werden. So flatterhaft expressiv hört man den ersten Holzbläsereinsatz im Kopfsatz der 3. Sinfonie in keiner anderen Einspielung.
Hörenswert ist auf jeden Fall der Vergleich der beiden Gesamtaufnahmen, die mit dem Birmingham Symphony Orchestra entstanden sind, beide Male mit jeweils jungen Chefdirigenten. Da ist zum einen Simon Rattle, der das Orchester bekanntermaßen zu Weltruhm geführt hat und die Werke in den frühen 1980er Jahren einspielte und zum anderen dessen Nachfolger Sakari Oramo, der ähnlich früh in seiner Ära die zweite Gesamtaufnahme folgen ließ. Klingt Rattles Interpretation an einigen Stellen doch noch recht plakativ und auf oberflächlichen Klangkitzel aus – was womöglich auch dem damaligen technischen Stand des Orchesters geschuldet ist und durch die Aufnahmetechnik noch verstärkt wird –, ist Oramos Deutung mehr nach innen gerichtet. Sie wirkt holographischer und leuchtet den Klangkosmos aus den Vernetzungen der sinfonischen Grundsubstanz aus.
Möchte man indes die eierlegende Wollmilchsau sein Eigen nennen, so dient sich die Aufnahme Herbert Blomstedts mit dem San Francisco Symphony Orchestra an. Ein ungemein ernsthaftes und stringentes Musizieren findet dort statt, das die klanglichen Texturen immer in Balance hält, sodass man den Eindruck hat, der Dirigent verschwinde hinter den kompositorischen Absichten des Komponisten. Dieses uneigennützige Qualitätsmerkmal ist durchaus typisch für Blomstedt, den häufig verkannten Elder Statesman des international tätigen Dirigentenzirkels. Soll es keine Gesamteinspielung sein, so sei noch auf einige herausragende Einzeleinspielungen verwiesen.
Ein unbedingtes Must-have ist Leonard Bernsteins Einspielung der 5. Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern. Mit langem Atem gelingt es Bernstein, das Statische dieser Sinfonie auszuhalten und doch die unmerkliche Entwicklung, das Ineinanderschieben der Sätze deutlich hörbar zu machen. Ohnehin ist die 5. Sinfonie am besten geeignet, um das sinfonische Prinzip des Finnen zu verdeutlichen, zumal in dieser Interpretation Bernsteins, während als Einstieg für den Sibelius-Neuling doch eher die „romantische“ 1. Sinfonie oder die kurze 3. Sinfonie zu empfehlen sind.
Unter den älteren Einzelaufnahmen, die auch noch problemlos als Vinyl beim freundlichen Antiquar um die Ecke zu bekommen sind, sollten unbedingt die klangschönen Tulips mit Herbert von Karajan beachtet werden. Die Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre entstandenen Einspielungen zeigen einen strahlenden, wuchtigen Sibelius, dessen frühes Vorbild Bruckner deutlich sichtbar wird. Besondere Authentizität hat die Aufnahme der 1. Sinfonie mit Eugene Ormandy, der als Dirigent persönlichen und freundschaftlichen Kontakt mit dem bereits greisen Komponisten pflegte.
Im Jubiläumsjahr des Komponisten bieten sich also zahlreiche Möglichkeiten, den sinfonischen Kosmos des Jean Sibelius zu durchstreifen, seiner Marginalisierung im deutschen Konzertbetrieb zum Trotz.