Classidelity Hörstoff: Das dritte Leben des Domenico Scarlatti – Zur Entdeckung eines Weltmusikers
Zuerst konventioneller Opernkomponist in Italien, dann völlig unkonventioneller Cembalokomponist in Spanien. Nun, in seinem dritten Leben, mutiert Domenico Scarlatti zur Galionsfigur einer multikulturell inspirierten Kreativität
Eigentlich schrieb er ja Vokalmusik – wie sein Vater, der berühmte Opernkomponist. Was hätte er auch sonst schreiben sollen im Italien des frühen 18. Jahrhunderts, am Hof von Neapel, in Florenz und Venedig, beim Vatikan in Rom? Oratorien natürlich, Kirchenmusik – und eben Opern: die üblichen Sujets, historische und mythologische Themen. Über die späten ägyptischen Könige und Königinnen, Ptolemäus, Alexander, Berenike. Über Götter und Helden des antiken Mythos, Iphigenie, Tethis, Narziss. Über Shakespeare-Figuren wie Hamlet („Ambleto“). Die Auftraggeber wechselten, doch der große Erfolg ließ auf sich warten. Mit Mitte 30 nahm Domenico Scarlatti deshalb einen Job im Ausland an – weg von der Konkurrenz und weit weg vom Vater. Auch im fernen Lissabon warteten zwar die Pflichten eines Hofkapellmeisters auf ihn – Konzerte, Opern, Kirchenmusik. Aber es gab noch eine andere Aufgabe: Klavierunterricht für die Königskinder.
Domenico Scarlatti war ein sensationeller Cembalist. Bei einem Treffen mit dem gleichaltrigen Händel triumphierte der Deutsche zwar an der Orgel, aber am Cembalo war Scarlatti unschlagbar. Hundert Teufel saßen ihm in jedem Finger. Als seine Cembaloschülerin, Prinzessin Maria Barbara von Portugal, 1729 mit dem spanischen Kronprinzen verheiratet wurde, folgte ihr Scarlatti von Lissabon nach Spanien. Zunächst Sevilla, Málaga, Granada: Hier begann Scarlattis zweites Leben. Die Musik Andalusiens muss ihn getroffen haben wie ein Blitz. Fandangos, Seguidillas, Boleros, der Flamenco-Gesang, die virtuosen Gitarren der Gitanos, die Rhythmen und Klagelieder, die modalen Melodien, maurische und jüdische Traditionen: All das sog er auf. Bis zu seinem Tod blieb er in Spanien, fast 30 Jahre lang. Er heiratete später eine Andalusierin und komponierte mehr als 550 Cembalowerke, die er „Sonaten“ nannte, „Klangstücke“. Die Opern hatte er hinter sich.
Scarlattis Cembalomusik ist Abenteuer pur. „Alle Regeln der Komposition“ habe er hier gebrochen, gestand der Komponist – und wofür? Um das Feuer und den Ausdruck einzufangen, die ihn in Andalusien inspiriert hatten – die Virtuosität der Musikanten, die rasch schwankenden Stimmungen in ihrer Musik, die heftigen Melodiesprünge, die wilden Tanzrhythmen, die Kastagnetten-Salven. Nichts liegt darum näher, als Scarlattis Sonaten auf der Gitarre zu spielen, dem Instrument der andalusischen Gypsies, der „Flamencos“. Stephen Marchionda hat genau das gemacht: „Ich habe das Gefühl“, sagt er, „dass die Scarlatti-Sonaten auf der Gitarre eine ausdrucksvolle Schönheit entwickeln, die auf dem Cembalo vielleicht gar nicht möglich ist.“ Besonders in der Sonate K 175 in a-Moll hört man, wie das Dissonante, das Mutwillige, das Zigeunerische aufbraust. Auf der Gitarre kommt Scarlattis Musik nach Hause.
Scarlattis drittes Leben hat gerade erst begonnen: Wir entdecken ihn heute neu als einen Pionier der „World Music“. Andalusien war der Schmelztiegel kultureller Einflüsse, aus dem er sich mit Talent und Fantasie bedient hat. Und um dieses multikulturelle Musikantentum frisch einzufangen, ist heute kaum ein Instrument besser geeignet als das Akkordeon. Rund um den Globus hat sich die „Quetsche“ in alle Traditionen eingemischt, um sie miteinander zu verrühren. Das Bauchklavier der Reisenden, Seefahrer, Emigranten und Wanderarbeiter ist der zum Blasebalg gewordene Global Sound. Scarlattis Landsmann Teodoro Anzellotti hat vor mehr als zehn Jahren schon 15 der Sonaten aufs Akkordeon übersetztUnd obwohl der Italiener eher konventionelle Stücke wählt, springen die Funken zwischen Scarlattis vital-melancholischen Gitano-Anklängen und dem „Gassen- und Ghetto-Flair“ des Akkordeons sofort über.
Ein beliebtes aktuelles Format für Barockmusik ist das Saxofonquartett: geblasene Vierstimmigkeit, bewegliche Dynamik, entwaffnende Transparenz, klangliche Geschlossenheit bis hin zum Orgeleffekt. Auch das Copenhagen Saxophone Quartet verzaubert Bach, Corelli, Vivaldi mit einer fast ätherischen Leichtigkeit. Desto deutlicher wird bei den Dänen das Besondere an Scarlatti: Seine Sonaten besitzen nicht die Logik Bachs, nicht die Feierlichkeit Händels, sondern eine modern anmutende Emotionalität und Spontaneität. Die Akkordeonistin Mie Mike – auch sie ein Scarlatti-Fan – hat es einmal so formuliert: „Durch die virtuosen Läufe, Triller, Sprünge und Akkordketten werden wir in Atem gehalten, und kurz gefasste Episoden sind in ihrer Dichte hoch konzentriert. Diese Musik ist so ‚neu‘, als wäre sie gerade eben, jetzt, hier entstanden.“