Die heimlichen Meisterwerke des Jazz – Chico Freeman, The Outside Within
Der Jazz ist vielgestaltiges Gelände, da hält man sich gern an sicheren Wegmarken fest, an Kind Of Blue und Saxophone Colossus. Doch leicht könnte man dabei Gewaltiges verpassen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte.
Um das Jahr 1980 herum machte sich der befreite Jazz daran, ganz neue Formen und Regeln zu entwickeln, groovige, griffige Konturen. Für Chico Freeman, damals um die 30, war das zugleich der Schritt von der AACM-Szene Chicagos in die Loft-Szene New Yorks. In dieser Phase strotzte der Saxofonist vor visionärer Kreativität, veröffentlichte zwei Leaderplatten pro Jahr und setzte Glanzlichter bei Elvin Jones, Jack DeJohnette und McCoy Tyner. Das Album The Outside Within soll 1978 entstanden sein, erschienen ist es 1981 und war auch da noch seiner Zeit voraus. Vielleicht hat die Zeit diesen Geniestreich überhaupt nie eingeholt. Vielleicht rannte die Zeit einfach in eine andere Richtung.
John Hicks (Piano), Cecil McBee (Bass), Jack DeJohnette (Drums): Das war damals eine All-Star-Rhythmsection, mehr brauchte Freeman nicht. Der Bassist lieferte ihm das erste Thema, „Undercurrent“, eine charmant sparsame Melodie über einem tranceartigen Bass-Ostinato und mit einer Fermate mitten drin – ein seltenes Juwel der Jazz-Ästhetik. Die Band nimmt den stimmungsvollen Einstieg als Startpunkt für einen 20-Minuten-Stratosphären-Flug im Tenorsax-Fieber; Hüllentexter Amiri Baraka meint anerkennend: „terrible terrible“. Das Stück gipfelt in einem sensationellen Sax/Drums-Duett. Von der sanften Trance in den feurigen Trip – ein modales Meisterwerk, rhythmisch getrieben, manchmal ins vierfache Tempo gesteigert.
Die B-Seite greift noch weiter hinaus in ungewohnte Farben und Formen. Freemans „The Search“ zum Beispiel entwickelt sich in knapp sieben Minuten von einer mysteriös-orientalischen Mood mit Bassklarinette über eine anrührende Saxofonballade hinein in einen aggressiven Blues March. „Luna“ (mit Tenorsax) und „Ascent“ (mit Bassklarinette) bewegen sich ebenfalls in Klangfeldern und Emotionen, die kulturell nur schwer zu verorten sind – hymnisch oder lyrisch, fragil oder mit rhythmischen Stakkati. Da öffnet sich die Sprache des Jazz in faszinierender Vielfalt – und das ganz ohne exotische Instrumente oder elektrische Sounds.