Canor Virtus I2
Canor liefert mit seinem neuen Vollverstärker Virtus I2 eine inspirierende Idee, wie Röhrentechnik im 21. Jahrhundert aussehen sollte.
In aller Kürze:
Klangkunst und Technologie verschmelzen: Der Canor Virtus I2 setzt neue Maßstäbe in technischer Innovation und musikalischer Ausdrucksfähigkeit. So geht Röhre im 21. Jahrhundert!
Nein, dieser Vollverstärker ist nicht für diejenigen Musikliebhaber gedacht, die einen Röhrenverstärker primär aus optischen Gründen ihr Eigen nennen wollen. Hier ist kein sanft glühender Lichtorgeleffekt zu bekommen, mit dem man beim unbedarften Nachbarn Erstaunen hervorrufen kann. Die slowakische Firma Canor setzt bei ihren Geräten grundsätzlich auf das geschlossene Gehäuseprinzip – da verschwinden die Röhren im Inneren des Geräts, und lediglich das imposante Gehäuse mit maximaler Haptik kann den Nachbarn beeindrucken. Im Innern werkelt ein Quartett KT88 für stabile 2 x 40 Watt im Ultralinear-Modus und 2 x 20 Watt im Trioden-Modus. Canors Röhrengeräte sind alles andere als handzahme Kistchen, die man eben ins Rack hievt – und schon gar nicht das neue Spitzengerät. Nicht nur, dass 28 Kilogramm Masse nicht mal so eben nebenbei aus der stabilen Kartonage gehoben sind, vielmehr gilt es einige Aufstellungsmodalitäten zu berücksichtigen.
Der Canor Virtus I2 braucht Platz, sogar viel Platz, damit die Raumluft um ihn herum zirkulieren kann, denn die Hitzeabstrahlung ist enorm – oder geradliniger ausgesprochen: Das Ding wird verdammt heiß. Und zwar so heiß, dass ich Ihnen dringend empfehle, es auf der obersten Rack-Ebene zu positionieren. Während meiner Probephase hatte ich den Virtus auf die unterste Ebene meines groß dimensionierten Finite-Racks gestellt, und trotz immerhin 15 Zentimeter Abstand zur darüberliegenden Ebene war diese nach zweistündigem Spielbetrieb bei einer Temperatur angelangt, die das Braten von Spiegeleiern erlaubt hätte. Sicher, der in Sachen Röhrenverstärkern erfahrene Hörer wird dies ebenso achselzuckend zur Kenntnis nehmen wie den Verbrauch von satten 150 Watt im Leerlauf. Und so gehört der Virtus I2 auch zu den Röhrenverstärkern, die recht leichtfüßig mit den meisten Standardlautsprechern umgehen können und keinen speziellen Hochwirkungsgradwandler benötigen. Sowohl die 83 Dezibel der sich zum Test bei mir befindlichen Lyngdorf Cue-100 als auch die 89 Dezibel meiner Gamut Phi 7 stellten keine ernsthafte Herausforderung dar. Auch beim zeitweiligen Umstieg auf den Trioden-Modus mit dann nur noch halber Ausgangsleistung trieb der Virtus I2 beide Lautsprecherpaare ohne merkbare Leistungsverluste an.
Das Detail im großen Ganzen
Bevor ich mich von Uwe Kuphal, dem Canor-Experten des deutschen Vertriebs, über die technologischen Skills der Neuentwicklung informieren lasse, hören wir ein erstes Mal in den I2 hinein: Starten wir doch mit dem audiophilen Lackmustest „Frauenstimmen“, eine musikalische Kategorie, um die ich eigentlich gern einen weiten Bogen mache, es sei denn, Josefine Cronholms Wild Garden dreht sich im CD-Player. Vollkommen frei schwingen die tiefen Saiten des Kontrabasses als einzige Begleitung zu Cronholms klar artikulierendem Alt, bevor Klavier, Percussion und Trompete in einem komplex verschachtelten Arrangement hinzutreten, das bis in die kleinsten Verästelungen zu vernehmen ist. Mehr als deutlich sind die Anblasgeräusche des Trompeters und die Atemzüge Cronholms zu hören, was hier aber keineswegs als schräge audiophile Pointierung missverstanden werden darf, denn die Canor’sche Röhrenverstärkung macht wunderbar deutlich, dass die Atemgeräusche Bestandteil des Arrangements bzw. des individuellen Ausdrucks der Künstler sind. Gerade auch in der Amalgamierung von Stimme und Trompete ist beim Virtus eine unglaubliche Lässigkeit zu erhören. Nein, Lametta und Showeffekte sind hier nicht zu finden, auch kein röhrentypischer „Butzenscheibensound“, wie dies einmal ein Kollege vor einigen Jahren so treffend nannte, dafür aber eine unglaubliche Entspanntheit, die trotz eines ganzheitlichen Sounds mit immer neuen kleinen, faszinierenden Details überrascht.
Dies fällt mir hier umso mehr auf, da ich gerade eine Phase habe, in der ich alle möglichen Jazzaufnahmen höre, an denen Jack DeJohnette beteiligt ist. An dessen Schlagzeugspiel begeistert mich ein auf das andere Mal die rhythmische Raffinesse, die er zudem mit unterschiedlichen klanglichen Schattierungen ins rechte Licht zu setzen weiß. Immer wieder nimmt man feine Verästelungen innerhalb eines in sich geschlossenen Klangbildes wahr, ohne dass diese aber von der Verstärkerseite grell ausgestellt würden. Oder wie man es in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts formuliert hätte: Große Kunst erkennt man daran, dass man deren Kunstcharakter nicht direkt wahrnimmt. Es scheint, als hätten sich Canors Ingenieure Sulzers Theorie der schönen Künste oder Kants Kritik der Urteilskraft vor der Entwicklung ihres neuen Referenzgeräts zu Gemüte geführt.
Vorsprung durch Technik
Nun steht jedoch das Telefonat mit dem Vertrieb an, um einige technische Details zu klären, die zu diesem beeindruckenden Auftritt beigetragen haben. Canor hat eigens ein Vakuumröhren-Messsystem entwickelt, um einen zuverlässigen Betrieb aller mit Röhren arbeitenden Komponenten sicherzustellen. Dies wurde notwendig, da der hausinterne Qualitätsstandard oft nicht mit den bisher verfügbaren Messsystemen erreicht werden konnte. Das entwickelte System mit dem Namen „Aladdin“ ermöglicht es, alle gemessenen Röhrenparameter in einer Datenbank zu speichern und Röhren nach verschiedenen Filtern für eine präzise Messung auszuwählen. Dies erlaubt den Technikern vor Ort, nun eine gezielte Auswahl aus dem vorhandenen Röhrenfundus zu nehmen – das bei einigen Röhrenliebhabern beliebte eigenhändige „Tuberolling“ ist hier weniger effektiv oder sogar kontraproduktiv. Neben der Röhrenanpassung widmet sich Canor mit besonderer Hingabe der Platinenbestückung. Aufgrund der hohen Impedanzen bei Röhrenschaltungen und der klanglichen Auswirkungen kleinster parasitärer Kapazitäten legt Canor besonderen Wert auf die eigens entwickelte CMT-Technologie im Platinenlayout. Diese reduziert die Abweichung vom idealen Verlustwinkel und erreicht die Eigenschaften selbst aufwendigster Punkt-zu-Punkt-Verdrahtung bei gleichbleibend hoher Fertigungsgüte.
Der Virtus I2 bietet zudem eine bemerkenswerte Flexibilität durch die Option des sofortigen Umschaltens zwischen Trioden- und Ultralinear-Modus, was dem Nutzer verschiedene Klangcharakteristiken zur Verfügung stellt. Der Canor bietet eine Auto-Bias mit Kathodenrückkopplung für eine sichere und selbstregulierende Arbeitsweise der Röhren – eine moderne Plug-and-Play-Röhrenlösung, die auch dem Laien einen sicheren Umgang mit der Röhrentechnik erlaubt. Betont wird bei Canor gerne die perfekte Kanaltrennung, die durch einen Relais-Lautstärkeregler mit individuellen Blöcken für jeden Kanal erreicht wird. Dieser Regler ermöglicht eine präzise Verstärkungsregelung in Schritten von einem Dezibel und kann das Signal um bis zu 63 Dezibel dämpfen. Besonders bemerkenswert ist hierbei, dass mehr oder weniger alle Fertigungsschritte vor Ort geschehen, Outsourcing und Zukäufe kennt man bei Canor eigentlich nicht. Ob Gehäuse oder Platine, ob Eloxierung oder Verdrahtung, immer gilt hier das Inhouse-Prinzip.
Röhrenpower pur
Aber kommen wir nach all den technischen Details wieder zum Eigentlichen zurück, zur Musik. Nun soll überprüft werden, ob die Röhrenpower des Virtus nur für zartbesaitete kleine Jazzbesetzungen gemacht ist oder ob diese auch mit Muskelkraft elektronisches Besteck zum Klingen bringt. All die klanglich schwierigen Trip-Hop- und Downbeat-Scheiben, die ich seit einiger Zeit wiederentdeckt habe, seien es Massive Attack, Chemical Brothers oder die genialen Trip-Hop-Damen Nicolette und Erykah Badu, sie alle ertönen vollkommen losgelöst und stressfrei. Die Bässe stehen tief und stabil im imaginären Raum, in den Höhen ist keinerlei unangenehmes Zischeln bei Hi-Hats und Sibilanten zu vernehmen. Ich ertappe mich dabei, wie ich beinahe die gesamte Nicolette- und Badu-Diskografie in einem Rutsch durchhöre, nicht zuletzt, weil die wunderbaren und so eigenwilligen Stimmen unverfälscht und geradezu verführerisch im Vordergrund des Geschehens stehen, während tiefe, mächtige Breakbeats den Raum fluten. Ja, dieser Röhren-Amp ist eine echte Allzweckwaffe.
Mit seinem transparenten und dennoch warmen organischen Klangprofil und der sich dahinter verbergenden beeindruckenden Ingenieurskunst ist der Canor Virtus I2 nicht nur ein technisches Meisterwerk, sondern auch ein klangliches Abenteuer, sowohl für audiophile Feingeister als auch für eher draufgängerische Sound-Enthusiasten. Bedenkt man dann noch, dass wir ein Gerät vor uns haben, das beinahe zu 100 Prozent aus europäischer Inhouse-Fertigung stammt, wird ein Hörtermin beim freundlichen Fachhändler eigentlich zum Pflichtprogramm. Worauf warten Sie also noch?
Info
Vollverstärker Canor Virtus I2
Konzept: hybrider Röhrenverstärker
Ausgangsleistung (4/8 Ω): 2 x 20 W (Triode), 2 x 40 W (ultralinear)
Eingangsempfindlichkeit: 500 mV
Frequenzgangabweichung @5 W (10 Hz bis 50 kHz): ±0,5 dB
Eingangsimpedanz: 30 kΩ
Eingänge: 4 x RCA, 2 x XLR (XLR sind nur in Monoblockschaltung aktiv)
Ausgänge: 1 x RCA Line-out (Line fix)
Klirrfaktor (1 kHz, 5 W): < 0,05 %
Geräuschspannungsabstand: > 95 dB
Verwendete Röhren: 4 x KT88/1 x 12AX7/2 x 12AT7
Ausführungen: Silber, Schwarz
Maße (B/H/T): 44/17/49 cm
Gewicht: 26 kg
Garantiezeit: 2 Jahre
Preis: um 9000 €
Kontakt
IDC Klaassen
Am Brambusch 22
44536 Lünen
Telefon +49 231 9860285
info@canor-audio.de
Mitspieler
Laufwerke: Thorens TD 126 MK III, Technics SL-1210 MK2
Tonarm: Koshin GST 801
Tonabnehmer: Sumiko Blackbird, Ortofon Concord Century
Phonovorverstärker: Innovative Audio Ultimate 2b, Thel Phono M
CD-Player: Naim CD 5i
Streamer: Naim CD5XS
Vollverstärker: Naim SuperNait
Lautsprecher: Gamut Phi 7
Kopfhörer: Beyerdynamic DT 1770 Pro
Zubehör: Wireworld, Sommer, Creaktiv