Beethoven X – mehr als Marketing?
Ein umstrittenes Projekt versucht Beethovens 10. Sinfonie mittels künstlicher Intelligenz zu vollenden. Unser Autor Roland Schmenner, der über Beethoven promoviert hat, fühlt dem Ergebnis auf den Zahn.
Das Beethoven-Jahr 2020 konnte bekanntermaßen nicht wie geplant stattfinden, viele Veranstaltungen wurden abgesagt oder verschoben. Darunter auch das medial gefeierte Projekt einer Vollendung der 10. Sinfonie des Meisters mit den Mitteln künstlicher Intelligenz. Von der Deutschen Telekom initiiert, die in Beethovens Geburtsstadt Bonn ihren Sitz hat, mit mächtig Werbung über ihren Content-Kanal MagentaTV vorangetrieben, sollte in dem Forschungsprojekt „Beethoven X – The AI Project“ der Frage nachgegangen werden, ob künstliche Intelligenz in der Lage ist, Beethovens Skizzen auf meisterlichem Niveau zu vollenden. Beauftragt wurde mit der Aufgabe das in Salzburg ansässige Karajan-Institut. Zu diesem Zweck gab man den Computern allerhand Input: Sie wurden mit 10 000 Musikstücken aus der Epoche Beethovens gefüttert, außerdem mit einigen der 40 Skizzen, die Beethoven zu seiner nie realisierten zehnten Sinfonie hinterlassen hatte. Insgesamt soll die KI ungefähr zwei Millionen Noten für zwei Sinfoniesätze als Vorschlagsvarianten ausgespuckt haben. Schnell kam man dann zu der Erkenntnis, dass eine kundige Menschenhand zwingend notwendig ist, um ein akzeptables Ergebnis zu erreichen. Immer wieder schickten die Musiker des Beethoven Orchesters Bonn unzulängliche Kompositionsergebnisse der KI zurück an das Salzburger Team aus Computerexperten und Musikentwicklern unter der Leitung von Matthias Röder, dem Direktor des Karajan-Instituts. Chefprogrammierer Ahmed El-Gamal räumte später auch ein, dass man ohne die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen wäre.
Aber schauen wir doch ein wenig grundsätzlicher auf das hochgepriesene Projekt: Bereits Mozart erdachte eine Anleitung so viel Walzer mit zwei Würfeln zu componiren, so viel man will, ohne musikalisch zu seyn, noch etwas von der Composition zu verstehen. Und bereits einige Jahre zuvor entwickelten ab 1757 Johan Philipp Kirnberger und Carl Philipp Emanuel Bach ähnliche kompositorische Würfelalgorithmen. Im Prinzip ist ein solcher Algorithmus auch kein Teufelszeug, basiert doch die mitteleuropäische Musik auf feststehenden Fortschreitungsregeln, die zwar im Laufe der Geschichte modifiziert und weiterentwickelt wurden, aber auch bei „Genies“ wie Beethoven nie willkürlich und regellos zur Anwendung kamen. Berücksichtigt man dies, wird die scheinbare Herkulesaufgabe für die KI plötzlich doch merklich geringer. Nicht umsonst stehen Stilkopien am Beginn einer Aufnahmeprüfung für das Studienfach Komposition. Und so muss man der Arbeit des Musikologen Barry Cooper einigen Respekt zollen, der sich bereits 1988 rein analog an die Rekonstruktion eines möglichen Kopfsatzes der 10. Sinfonie wagte. Ein Ergebnis, an dem sich der Telekom-Beethoven messen lassen muss, soll der immense technische Aufwand gerechtfertigt werden.
Also lauschen wir der Aufnahme des Bonner Beethoven Orchesters: Man vernimmt ein Mosaik bekannter Motive und gängiger Kadenzwendungen und wird das Gefühl nicht los, hier sei der Leistungskurs Musik eines kleinstädtischen Gymnasiums damit beauftragt worden, die prägnantesten Stellen aus neun bekannten Sinfonien harmonisch korrekt aneinanderzubasteln. Wozu all die Unmengen an Arbeitsspeicher und Rechenleistung benötigt wurden, das erschließt sich musikalisch zu keinem Moment. Selbst die Cooper’sche Rekonstruktion des Kopfsatzes klingt da stimmiger und flüssiger. Man kann sich zudem des Eindrucks nicht erwehren, dass bei der Vorauswahl des musikalischen Materials bewusst auf bekannte Häppchen zurückgegriffen wurde, damit auch die erlauchten Sponsoren und Ehrengäste der Uraufführung einen Widererkennungseffekt bekommen und ihr Geld gut angelegt sehen. Prestigeprojekt bleibt Prestigeprojekt, oder wie die Deutsche Telekom es formuliert: „Das Unvorstellbare wird erlebbar.“
Vollends in Richtung Showgeschäft führt die Idee, im zweiten Satz eine Orgel einzubinden. Der Verweis der Macher, man habe in den Skizzen Hinweise gefunden, dass Beethoven „etwas mit Religion“ vorhabe, zeugt von einem erstaunlichen Unwissen, was Beethovens Kompositionsideen angeht. Beethoven hat in mehr oder weniger allen Schaffensperioden „irgendwas mit Religion“ gemacht und dafür jeweils mehrere Codes zur Verfügung gehabt. Entweder bediente er sich bei einer traditionellen Instrumentenverwendung, wie in den Finalsätzen der 6. und 9. Sinfonie, in denen Posaunen an den entsprechenden Stellen zum Einsatz kommen, oder aber er codierte religiöse Aspekte über die Harmonik, indem er bewusst auf Kirchentonarten zurückgriff oder mit Mediantsprüngen arbeitete. Zu keinem Zeitpunkt wäre es ihm in den Sinn gekommen, auf eine Orgel zurückzugreifen. Einerseits, weil es schlichtweg keine Konzertsäle mit eingebauten Orgeln gab und Kirchen wiederum nicht der Aufführungsort für Sinfonien waren, und andererseits, weil die Orgel im 19. Jahrhundert außerhalb des Kirchenschiffs nicht religiös konnotiert war. Die Orgel war eine Soundmaschine, die Komponisten wie Saint-Saëns oder Strauss effektvoll in Orchesterwerken einzusetzen wussten. Mit Religion hatte dies nichts zu tun. Und so fungiert das Instrument auch hier. Wir vernehmen ein Soundspektakel nach dem Motto „Beethoven meets Hans Zimmer“, wogegen ja auch nichts einzuwenden ist, man muss die Instrumentation aber nicht biografisch und musikhistorisch halbseiden legitimieren. Vollends ahistorisch und allein auf den Knalleffekt hin produziert ist dann das große Tschingderassabum zum Finale hin, das eher an den Radetzky-Marsch als an das Ende einer Beethovensinfonie erinnert.
Als Fazit muss das Beethoven-AI-Projekt nicht nur als gescheitert gelten, es ist vielmehr ein veritables musikwissenschaftliches Ärgernis, da entweder aus Unwissenheit oder aber – was plausibler erscheint – aus Marketinggründen schlichtweg musikhistorisch unsauber bis verfälschend gearbeitet wurde. Nein, das Projekt „Beethoven AI“ zeigt uns nicht, wie eine 10. Sinfonie Beethovens hätte klingen können, es zeigt uns, wie Kulturindustrie im 21. Jahrhundert funktioniert. Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu hören!
Beethoven X bei jpc gibt’s hier.