Frische Perspektiven
Warschau ist anders: Die Stimmung, das Publikum, und nicht zuletzt die Vorführungen. Wir haben einige der bemerkenswertesten Messerlebnisse der AVS 2022 in Warschau für Sie gesammelt.
Als ich mich im Golden Tulip in den Holophony-Raum setze, finde ich mich zunächst in einer völlig normalen Vorführung wieder: Etwa ein halbes Dutzend Zuhörer lässt sich von einem Paar Holohony Number 2 beschallen, angetrieben von einem Vollverstärker des gleichen Herstellers mit integriertem DAC, der noch keinen Namen hat. Angerichtet ist alles auf Basen von Receptor, Dreamlink zeichnet für die Verkabelung verantwortlich. Alles polnische Hersteller – keine große Überraschung auf der Audio Video Show Warschau.
Es läuft gerade Dire Straits’ Brothers in Arms, als ein weiterer Herr den Raum betritt und bald das Gespräch mit dem Vorführer sucht; er hat etwas mitgebracht: kleine hölzerne Pucks, in denen sich hinter einer Acrylglasscheibe ein mysteriöses, metallisch-rötlich schimmerndes Etwas befindet, in etwa so groß wie eine Cent-Münze. Bald stehen die beiden auf, unterbrechen die Musik, platzieren zwei der Holzscheibchen unter den Lautsprechern und lassen dasselbe Stück von Anfang an noch mal laufen. Schon bei dem atmosphärischen Soundgewaber vor dem eigentlichen Beginn des Stückes lässt sich ein Unterschied feststellen: Die grundtonschweren Klangmassen scheinen weniger zu dröhnen als noch eben, auch greifen sie scheinbar müheloser über die Basisbreite der Lautsprecher hinaus. Die Blicke des erstaunten Publikums wenden sich dem Herren mit den Pucks zu, die Bühne gehört nun ihm.
Der Pitch, der darauf folgt, kann so nur in Warschau passieren: Mit offensichtlich gespielter Wichtigtuerei baut er sich auf und verkündet: „Was Sie hier Hören, meine Damen und Herren, sind Quantenfeldlinsen.“ Herzhaftes Gelächter breitet sich im Raum aus, der Vortragende hat genauso viel Spaß wie alle anderen. Er erklärt uns weiter, dass der Hersteller N-Audio in den Wunderscheiben offenbar eine besondere Messinglegierung einsetzt, die unter sehr spezifischen Bedingungen erstarrt und wohl dadurch seine physikalisch nicht wirklich erklärbare Wirkung entfaltet. Eine detaillierte quantenphysikalische Erklärung gebe es, aber die sei komplett aus der Nase gezwirbelter Humbug – wenn man so ein Produkt auf den Markt bringen will, muss man eben was dazu zu erzählen haben. Freimütig führt er aus, dass er nicht die leiseste Ahnung habe, was genau die Pucks tun und warum sie tatsächlich einen Unterschied machen, und schließt im Brustton der Überzeugung ab: „aber – verzeihen Sie meine Ausdrucksweise – kurwa mać, sie funktionieren halt einfach“. Eine Überzeugung, die nach dem eben Gehörten auch das Publikum teilt.
Ein Herz zum Anfassen
In krassem Kontrast zu diesem Spektakel steht die Vorführung bei Ancient Audio im Radisson Blu Sobieski. In dem Raum, dessen Stirnwand mit rund einem halben Dutzend Lautsprecherpaare vollgestellt ist, macht ebenfalls ein kleines Objekt hinter einer Plastikscheibe seine Runde durch das neugiereige Publikum. Hier handelt es sich jedoch keineswegs um ein esoterisch angehauchtes Wundermittel, sondern um den selbstentwickelten DSP-Chip – er bildet das Herzstück des Vollverstärkers Single Solid, der neben einem DAC eben auch mit integrierter digitaler Signalverarbeitung glänzt. Als ich den Raum betrete, befindet sich der Entwickler gerade in einem regen Dialog mit zweien der Zuhörer, die das Silikonstück in einer technischen Tiefe diskutieren, bei der ich gerne zugebe, dass sie meinen Verständnishorizont übersteigt.
Nachdem zumindest für die drei alle Fragen geklärt sind, geht es ans Hören, Star der Show sind die aktiven Kompakten Vintage Horten, angetrieben von besagtem Vollverstärker, wobei das CD-Laufwerk Lektor Transport als Zuspieler dient. Der Silberscheibendreher fällt optisch vor allem dadurch auf, dass sich die CD nicht im Gehäuse, sondern unverdeckt auf diesem dreht. Wer noch mehr sehen will, kann dazu im Vorraum die komplette Mechanik begutachten, die auf einem Tischchen zur Schau gestellt ist.
Markant ist auch die Reaktion des Vorführers, als auf die Frage nach Musikwünschen hin Kind of Blue aufkommt: „Wissen Sie, Kind of Blue spielt halt irgendwie jeder, nicht wahr?“ Nach kurzer Verhandlung einigt man sich auf eine kurze Auswahl weniger bekannter Jazz-Klassiker, die Anlage gibt eine gewinnende Vorstellung ab und das Publikum wirkt sehr zufrieden.
Bastler-Mekka
Noch mehr für all jene, die Freude am technischen Eingemachten haben, bietet der Raum von Forum DIYaudio.pl. Wer sich in der High-End-Szene ein wenig auskennt, weiß womöglich, dass Nelson Pass nicht nur für Pass Labs bekannt ist, sondern mit seinem Zweitprojekt First Watt vor allem auch hohes Ansehen in der Selbstbauerszene genießt. Jedes der First Watt-Designs – betont minimale Schaltungen mit maximal 25 Watt pro Kanal – gibt der Verstärker-Guru eine Weile nach dem Produktionslauf der Öffentlichkeit zum Nachbau frei. Als Herzstück ihrer Vorführung haben die jungen Tüftler vom DIY-Forum denn auch einen First Watt M2 nachgebaut, den sie in einem klasse wirkenden Gehäuse stolz präsentieren.
Der DAC links daneben trägt seine Innereien offen zur Schau, sein Entwickler erklärt mir, dass er drei verschiedene Chips eingebaut hat – einen Philips TDA 1541, einen Analog Devices AD 1865 und einen Burr-Brown PCM 1704 – zwischen denen er jederzeit auf Knopfdruck umschalten kann.
Auch die beiden Lautsprecherpaare im Raum sind selbstverständlich Eigenbauten, die auf hochklassigen Treibern von Sonido, Bliesma, Seas und anderen basieren. „Das einzige, was wir nicht selbst gebaut haben, sind die Möbel und der Laptop“, erklärt mir der Entwickler mit einem verschmitzten Grinsen.
Gemischte Gesellschaft
Was viele der Vorführungen hier von der üblichen HiFi-Messenkost unterscheidet ist, dass sie sich auch stark an junge und auch generell „uneingeweihte“ Besucher wenden. Am JBL-Stand im Stadion „Narodowy“ etwa lässt sich ein Vater mit seinen zwei Kindern eine Partybox 510 erklären. Als Prüfstein wählt der ältere Sohn Metallica’s Enter Sandman. Auch wenn ich mich bei der Szene im ersten Augenblick eher in einen Mediamarkt versetzt fühle als auf eine HiFi-Messe, muss ich doch gleich anerkennen, dass diese Art von Vorführraum – auf der AVS im Übrigen vielfach vertreten – genau der „Köder“ ist, den die High-End-Welt braucht: Hier werden die jungen und „normalen“ Verbraucher dort abgeholt, wo sie stehen – und wandern unmittelbar danach zwei, drei Räume weiter, beispielsweise zur Audio Group Denmark oder zu Innuos, um auch mal zu hören, was in Sachen hochwertiger Musikwiedergabe wirklich möglich ist.
Dementsprechend bunt gemischt fällt denn auch das Publikum auf der ganzen Messe aus: Hier probiert eine Dame mittleren Alters einen magnetostatischen High-End-Kopfhörer aus, da dreht ein Teenagerpärchen seine Runden, wobei das Mädel führt – großartig!
New Yorker Skyline in Warschau
Einen Köder der visuellen Art hat McIntosh ausgeworfen: Die Amerikaner haben die gesamte Fassade ihres Raumes so umgestaltet, dass sie eine Verstärkerfront im unverkennbaren McIntosh-Design mimt – inklusive zweier in die Wand eingelassener Bildschirme, die als riesige VU-Meter in Echtzeit den Pegelstand des musikalischen Geschehens im Inneren an die durch die Gänge schlendernden Besucher durchreichen.
Im Raum selbst ist es dunkel, links und rechts flankieren Podeste im Wolkenkratzerdesign, auf denen verschiedene McIntosh-Verstärker ruhen, eine mächtige Zweikanal-Anlage samt Leinwand, die die Szene dominiert: Angetrieben von Referenzelektronik des Herstellers, füllt ein Paar XRT1.1 Line-Array-Lautsprecher das großzügig dimensionierte Zimmer mühelos mit Klang. Trotz Leichtbauwänden breitet sich ein volles, bestens konturiertes Bassfundament aus und trägt eine Bühne, die die Raumdimensionen nochmal deutlich zu strecken scheint
Ostentativ minimalistisch
Wesentlich zurückhaltender gibt sich Audiolens. Der noch junge Hersteller präsentiert hier seinen ersten Lautsprecher – eine aktive Standbox, die auf den einleuchtenden Namen Active One hört. Die possierlichen Standlautsprecher im toll anzusehenden Holzfurnier sind nicht nur mit Class-D-Endstufen, sondern auch mit einem Vorverstärker-DAC ausgestattet. Um zu demonstrieren, wie minimal ein Setup ausfallen kann, das um die Active Ones herum gestrickt ist, hat sich der Aussteller etwas niedliches einfallen lassen: Das Rack, das in klassischer Hifi-Manier zwischen den Boxen steht, ist weitgehend leer – lediglich die oberste Ebene ist mit einem winzigen, etwas verloren wirkenden ifi Zen Streamer belegt.
Das leichtgewichtige Erscheinungsbild der Anlage hält die beiden Metaller im Raum in keinster Weise davon ab, den kleinen Säulen mit Power Metal die Sporen zu geben, worauf der Vorführer apologetisch erklärt, das die Lautsprecher mit ihren 17er-Tiefmitteltönern natürlich nicht durch markerschütternden Bass überzeugen werden. Das Pärchen mit dem schweren Musikgeschmack scheint dennoch sehr angetan, die aktiven schlagen sich mehr als wacker.
Immerhin erlauben die Active Ones eine Regelung des Basspegels. An sich sei diese Funktion für die Anpassung an die Raumakustik vorgesehen, aber hey, wieso nicht auch an den persönlichen Hörgeschmack? Bei all der Funktionalität, aber auch angesichts der Klangqualität beeindruckt mich hier vor allem der geplante Endverbraucherpreis, der 20 000 Zloty, also etwas mehr als 4000 Euro für das Paar.
Generell wirkt neben dem Publikum an sich auch die Musikauswahl deutlich anders als auf anderen HiFi-Messen: Kaum verlasse ich den Raum von Audiolens, brüllt mir von woanders Deep Purple’s Burn entgegen, aus einem weiteren Raum höre ich den polnischen Rapper O.S.T.R. Messe-Standards wie Liberty von Anette Askvik oder Bubbles von Yosi Horikawa höre ich in Warschau nicht wie auf anderen Messen gefühlt in jedem zweiten Raum, sondern jeweils exakt einmal. Eine musikalisch besonders kuriose Erfahrung mache ich im Raum von Qualio. Hier führt der Aussteller seinen IQ genannten Lautsprecher mit einer Techno-Röhre vor, die von Sinus-Sweeps bis hin zu Kanalansagen alle klassischen Testsignale abfeiert, bevor der obligatorische Trommelwirbel das Four-on-the-Floor-Gehämmere ankündigt. Den Antrieb besorgt hier ein Class-D-Verstärker desselben Herstellers, der 140 Watt leistet, noch auf seine taufe wartet und 1500 bis 2000 Euro kosten soll.
Ein Besuch auf einer Messe wie der High End in München kann einen nicht wirklich auf die AVS in Warschau vorbereiten. Obwohl ähnlich groß, wirkt die Messe hier wesentlich intimer und lockerer, die Mienen beim Hören sind viel weniger ernst, und die Musik reizt eben nicht immer das volle Klangpotenzial der Anlagen aus – was soll’s, ich würde es nicht anders haben wollen.
… und hier geht’s zum Teil 1 unserer Berichterstattung.