Audio Video Show 2023, Warschau
Vor 27 Jahren gegründet, fand die Audio Video Show in Warschau 2023 zum 25. Mal statt. Wir alle kennen den Grund für das mathematische Ungleichgewicht, von etwaigen Nachwirkungen ist indessen rein gar nichts zu spüren: Wie gewohnt verteilte sich die Messe auf drei prall gefüllte Veranstaltungsorte – und ebenfalls wie gewohnt war die Stimmung großartig.
160 Räume, 150 Aussteller, 600 Marken. Wie die High End, nur etwas kleiner, könnte man auf den ersten Blick meinen – und läge damit weit daneben: Die Audio Video Show in Warschau fühlt sich völlig anders an als alle anderen einschlägigen Veranstaltungen – und gerade deshalb ist sie für uns jedes Jahr aufs Neue ein besonderes Highlight. Formal mag die zweitgrößte HiFi-Messe Europas weitgehend dem Modell einer klassischen Hotelmesse folgen, doch die Musik, das Publikum, die Stimmung, das muss man auch und gerade als Audiophiler mindestens einmal gesehen und gehört haben. B2B steht hier klar im Hintergrund, beim Warschauer Event dreht sich alles um den Endverbraucher. Und der ist nicht nur ausnahmsweise gerne mal eine Sie, dazu ist deutlich weniger als die Hälfte der Besucher graumeliert: Der arrivierte Arzt oder Architekt ist natürlich vertreten, ebenso wuseln aber auch Teenager neugierig von Raum zu Raum, Mütter führen ihre Bauklötze staunenden Kinder durch die Vorführungen – die Warschauer Messe ist erfrischend nah am Normalverbraucher.
Der hört freilich auch nicht in erster Linie Anette Askvik oder Patricia Barber – aus dem Räumen hallt eine bunte Mischung aus Toni Braxton, Hans Zimmer, Pink Floyd und vielen anderen. Hier und da ist auch mal harter Techno oder auch Rammstein zu vernehmen. Keine Sorge: Auch audiophile Kost wird geboten, dominiert den O-Ton der Messe aber keineswegs. Generell ist die Stimmung erfrischend unprätentiös: Massenhersteller wie JBL, Pioneer oder Onkyo stellen hier Partyboxen und bezahlbare AV-Receiver in direkter Nachbarschaft zu High-End-Schmieden wie McIntosh, Wilson Audio oder der Audio Group Denmark aus, die exakt dem gleichen, “unverdorbenen” Publikum das technisch Machbare demonstrieren.
Zwischendrin locken diverse Hersteller die Besucher mit Glücksrädern, Lostrommeln und anderen Gewinnspielen, um sich mit kleinen Gadgets und echten Gewinnen wie Kopfhörern oder Smart Speakern dauerhaft in deren Gedächtnis zu brennen. An hochkarätigen Heimkinosystemen werden nicht nur Filme und Rockkonzerte vorgeführt, vielerorts sind auch Spielekonsolen angeschlossen, an denen sich jeder mal versuchen darf, bei Pioneer steht ein Simrig samt Rennschale, Force-Feedback-Lenkrad und amtlichem Pedalset bereit, ein Couch-Rennfahrer schärft sein Können am neuesten Forza-Titel – so züchtet man HiFi-Nachwuchs!
Das Radisson Blu Sobieski Hotel ist Veranstaltungsort seit der ersten Stunde, bietet aber seit Langem nicht mehr die nötige Kapazität. Neben dem schräg gegenüber liegenden Golden Tulip nimmt die AVS seit 2015 auch das Warschauer Fußballstadion „PGE Narodowe“ in Beschlag – allein die Möglichkeit, durch die Fensterfront an der Stirnwand der Vorführräume auf den Rasen blicken zu können, sorgt für ein ganz besonderes Flair, das DJ-Duo im Foyer tut ein Übriges dazu, jeglichen Anflug von Staub und Verkrustung zuverlässig fernzuhalten.
Ebenfalls im Sinne der Interessen einer jüngeren Klientel ist im Stadion ein großzügig abgestecktes Areal ausschließlich dem Thema Head-Fi vorbehalten. In einem geräumigen, stets gut besuchten Foyer reihen sich Tische mit etlichen Hörstationen aneinander und bilden zusammen Polens größte Kopfhörerausstellung. Von Audeze über Sennheiser bis Warwick Acoustics ist hier alles dabei, wer das besondere sucht, kann auch durch eine Auswahl an Individualisierungsoptionen wie etwa besonderen Ohrpolstern für seinen audiophilen Kopfschmuck stöbern.
Die Organisation klappt übrigens hervorragend: Während man lediglich eine – zugegebenermaßen riesige – Kreuzung diagonal überqueren muss, um vom Sobieski zum Golden Tulip oder umgekehrt zu gelangen, ist das PGE eine gute Fußstunde von den beiden Hotels entfernt. Die Distanz überbrückt man am besten mit dem Shuttlebus, der alle halbe Stunde zwischen dem Sobieski-Hotel und dem PGE-Stadium hin-und herpendelt. So muss man nie allzu lange auf die nächste Abfahrt warten, die Fahrt selbst dauert gut zehn Minuten. Wer den ganzen Tag vor Ort ist, kann also durchaus mehrmals die Location wechseln. Ein bisschen Vorplanung sei allerdings dennoch wärmstens empfohlen – es gibt viel zu sehen und zu hören, und das lange Wochenende ist am Ende schneller rum, als man denkt…
Ein Füllhorn an Kuriositäten
…vor allem, wenn man sich die Zeit nehmen will, sich richtig auf die schiere Bandbreite und Diversität der Exponate einzulassen. Die Erlebnisqualität jeder HiFi-Messe wird stets vom ausgestellten Equipment bestimmt. Die üblichen Größen wie Accuphase, Bowers & Wilkins, DALI, Innuos oder Transrotor sind selbstredend ebenso vertreten wie die großen Lokalmatadoren: Fezz, Pylon, Lampizator, Taga Harmony, um einige der gewichtigeren Namen zu nennen. Doch eine solche Veranstaltung besucht man natürlich auch für den Blick über den Tellerrand, hin zu Herstellern, die in der HiFi-Landschaft eher ab vom Schuss angesiedelt sind – und genau hier hat Warschau traditionsgemäß ein ganzes Füllhorn an Exoten und Kuriositäten zu bieten.
Während es in den meisten Hotelräumen im Radisson Blu recht lauschig zugeht, findet sich im zweiten Stock ein Zimmer, dass trotz identischer Abmessungen überraschend leer wirkt: Ein frei platzierter, technoid wirkender Mannequin, bestehend aus Torso und Kopf, beherrscht den Raum.
Was man auf den ersten Blick für einen extrem elaborierten Kopfhörerständer halten könnte – das Haupt ziert ein Stax-Elektrostat – sorgt über den Rumpfteil tatsächlich auch für die Verstärkung. Ein kurzer Klangcheck überzeugt, doch auch, wer die Installation für ein Head-Fi-System mit Wow-Effekt hält, liegt daneben: Wie mir der verschmitzt lächelnde Vorführer erklärt, liegt des Rätsels Lösung im Kopfteil. Ungefähr da, wo man das Gehirn erwarten würde, tickt ein unverkleidetes Uhrwerk vor sich hin. Es handelt sich in der Tat um eine Kooperation mit einem renommierten Schweizer Hersteller, das Objekt ist in erster Linie eine Luxusuhr – die High-End-Kopfhöreranlage ist hier quasi nur eine Nebenfunktion.
Das Herz nach außen getragen
Jedes Jahr einen Besuch Wert ist der Raum des Forum DIYAudio.pl – hier lassen sich die Kreationen der polnischen Selbstbauerszene bewundern: Durchweg mit Top-Komponenten aufgebaute, teils recht experimentelle Designs. Elektronik und Frequenzweichen werden hier, neugierige Blicke einladend, offen zur Schau gestellt.
Auffällig war dieses Jahr vor allem die Bandbreite der Ansätze bei der Gehäusegestaltung: Ein Paar winziger Lautsprecherchen, die beide zusammen auf meiner Handfläche Platz finden könnten, demonstriert, wie sauber ein 3D-gedrucktes Gehäuse aussehen kann, den Gegenpol bilden zwei kapitale „Kompakte“ die hier auf grob texturierten Beton vertrauen.
Das Pferd von hinten aufgezäumt
Wenn es um HiFi geht, steht stets auch die Frage im Raum, welche Komponente die wichtigste ist – Lautsprecher oder Verstärker? Oder doch die Quelle? Wer eine kontroverse Meinung zu diesem Thema sucht, wird im Raum von ZenSati fündig. Als ich den Raum betrete, denke ich im ersten Augenblick, die Vorführung sei noch im Aufbau begriffen: Das Rack steht mit dem Gesicht zur Stirnwand, die gesamte vordere Raumhälfte ist voll mit einem dichten Gewusel an Strom-, Lautsprecher- und Kleinsignalkabeln in silbrig schimmernden Geflechtschläuchen, die das Prädikat „Daumendick“ wie eine Kindergartenansage wirken lassen.
An den Spleißpunkten trägt die mächtige Takelage großflächig Gold zur Schau. Die antreibende Elektronik von Audio Analogue tritt hier nicht nur in den Hintergrund, sie verschwindet fast vollständig. Der Preis für die Verkabelung? Nur eine Zahl – der anvisierte Kunde nimmt sie zur Kenntnis und zückt ohne mit der Wimper zu zucken seine schwarze Visakarte.
Volle Kontrolle über die gesamte Signalkette
Wenn ich Ihnen erzähle, dass das Pärchen JBL L19 im Raum von RT Project etwas Besonderes war, dann müssen Sie mir das glauben – allerdings hat das in diesem Fall sehr viel mit den Umgebungsvariablen zu tun. Der junge Hersteller bietet an sich als einziges Serienprodukt einen High-End DAC an, wahlweise mit Transistor-, Röhren- oder Hybridausgangsstufe. Für die Warschauer Show haben die Entwickler allerdings ein mehr als komplettes Frontend auf die Beine gestellt: Der DAC füttert eine Vor-/Endstufenkombi, die sich zwar im Prototypenstadium befindet, deren ungewöhnlicher Formfaktor mit seitlich montierten Transformatoren und Röhren in jedem Setup ein absoluter Blickfang wäre.
Mehr als komplett schreibe ich, weil RT Project noch einen Schritt weiter geht: Letztlich wird das, was sich am Ende von den Membranen löst, maßgeblich von der Frequenzweiche bestimmt, und die war den polnischen Ingenieuren offenbar nicht gut genug – also entwickelten sie kurzerhand externe Netzwerke, deren Gehäuse über Ziegelsteine an die Ständer der amerikanischen Kompakten angekoppelt sind. Das Ergebnis konnte sich auf jeden Fall hören lassen!
Wer HiFi wirklich in allen seinen Facetten erleben möchte, kommt an der Audio Video Show in Warschau kaum vorbei – das Publikum ist ebenso bunt gemischt wie die vorgeführten Systeme, und das ganze ist eingebettet in eine erfrischen unprätenziöse, nahbare Atmosphäre. Wir freuen uns jetzt schon auf das nächste Jahr!