Die Macht der Musik
Über Tristan, Therapien und Trance
Der Rattenfänger von Hameln, der Lockruf der Sirenen, das Harfenspiel Davids, die Nationalhymne, die Zauberflöte, der Gesang der Loreley: Musik besitzt eine unheimliche, unwiderstehliche Macht über uns. Ein Fall für Forscher und Esoteriker.
Natürlich wissen wir alle, warum wir Musik hören. Sie heitert uns auf. Sie baut Stress ab. Sie lässt uns träumen. Sie macht uns unternehmungslustig. Sie macht uns tanzwütig. Sie bewirkt, dass wir weinen können. Sie bereitet Gänsehaut. Sie lenkt von Schmerzen ab. Sie weckt Erinnerungen. Sie schweißt uns zusammen. Sie regt unseren Geist an. Sie bietet eine Fluchtmöglichkeit. Sie bringt uns in Feierstimmung. Sie gibt uns Trost. Kurz gesagt: Musik macht etwas mit uns. Sehr Verschiedenes sogar. Es ist so ähnlich wie mit dem Glas Bier nach Feierabend: Mal macht es dich wach, mal macht es dich müde, mal fröhlich, mal sentimental, mal aggressiv, mal großzügig, mal gesellig, mal einsam. Aber es wirkt. Deshalb trinkst du es ja.
Doch warum wirkt Musik so stark? Für den Neurologen ist die Sache klar. Er wird nie die Frage diskutieren, ob wir besser „mit dem Kopf“ oder „mit dem Bauch“ Musik hören, denn alle Hörempfindungen landen auf jeden Fall erst einmal als Signale im Gehirn. Auch Emotionen sind für ihn nichts als Neuro-Impulse. Und unser Gehirn ist – anders als gewisse Behörden, bei denen die eine Abteilung nicht weiß, was die andere tut – ein komplexes, dicht vernetztes Ganzes. Jede Nervenregung dort beeinträchtigt andere Hirnareale, weckt Empfindungen, Assoziationen, Erinnerungen. Musik ist strukturiert – und unser Gehirn hat gelernt, dass es Strukturen mit allen Mitteln dechiffrieren muss und dann dafür belohnt wird. Wenn wir Musik hören, kommt Leben in die ganze Bude unterm Schädelknochen. Da flackert das Impulsfeuer aus allen Hirnwindungen. Musik ist eine psychoaktive Substanz. Sie setzt Glückshormone frei.
Einer Kraft, die so stark auf uns wirkt, trauen wir natürlich alles zu. In Jericho soll die Musik sogar Mauern zum Einsturz gebracht haben. Manche wollen mit ihr Schlangen beschwören, den Regen herbeizaubern und Kamele zum Weinen bringen. Mit Musik werden Geister gerufen und wieder fortgeschickt, Götter verehrt, Mädchen verführt, Schlachten gewonnen, Steuern eingetrieben, nationale Gefühle beschworen, Kranke geheilt, Lektionen im Schlaf gelernt.
Was die Wirksamkeit von Musik betrifft, kennen die Theorien der Esoteriker und die Versuchsanordnungen der Wissenschaftler keine Grenzen. Rheumatiker werden gesund, Geranien wachsen besser, die Umsätze im Supermarkt steigen – alles durch Musik.
Philosophen und Poeten
Schon die alten Griechen schätzten und fürchteten die Macht der Töne. Im griechischen Mythos besänftigt die Musik wilde Tiere, bringt sogar Bäume zum Tanzen und macht Frauen zu Mörderinnen. Die Pythagoreer glaubten, dass Seele und Körper des Menschen in Intervallen gestimmt seien, die direkt auf die Intervalle der Musik ansprechen. In der originalen Asklepios-Klinik in Epidauros spielten die antiken Musikkapellen – angeblich mit Erfolg – gegen Hüftschmerzen und Wahnvorstellungen der Patienten an. Die ekstatische Wirkung der Musik , so vermutete man, reinige Körper und Seele von Krankheiten und Giften. Der Philosoph Platon vertraute vor allem der ermutigenden Kraft des dorischen Modus und dem milde stimmenden Einfluss der phrygischen Tonskala. Dagegen hätte er die ionische, lydische und mixolydische Tonart am liebsten verbieten lassen. Er war überzeugt davon, dass sie den Hörer verweichlichen und zum Jammerlappen machen.
Auch neuzeitliche Denker wie Heinrich Heine, Schopenhauer oder Nietzsche waren zwiespältig fasziniert von der Macht der Musik. Der Romantiker W.H. Wackenroder sprach von ihren „Seelenmysterien“, die erfüllt seien von „magischen Bildern“. Schopenhauer stellte fest, Musik erreiche „die Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers“ unmittelbar und könne sie erhöhen, aber ebenso auch umstimmen. Nietzsche glaubte, dass Musik zwar das kreative Denken fördere, aber in großer Dosis zu einer „Erschütterung und Untergrabung der geistigen Gesundheit“ führen könne. Für Kierkegaard war die Musik das Dämonische schlechthin. Sie alle liebten die Musik ja – aber mit schlechtem Gewissen. Sie spürten, dass die Kraft des Musikalischen stärker ist als Vernunft und Wille – und dass sie gegen diese missbraucht werden kann.
Der junge Thomas Mann hat sich sogar einen Spaß daraus gemacht, solche „Erschütterungen“ auszumalen, von denen Nietzsche spricht. In Manns frühen Werken erliegen immer wieder sensible, etwas hysterische Figuren der Macht der Klänge, meist der „Nervenkunst“ Richard Wagners. Als hilflose Opfer der Musik werden sie zu verbotenen Leidenschaften verführt, die nicht selten tödlich enden. Ein literarisches Vorbild dafür hatte Thomas Mann in Tolstois Novelle Die Kreutzersonate. Aber es gab auch einen realen Hintergrund: Es heißt, im 19. Jahrhundert seien mehrere Dirigenten bei der Aufführung von Richard Wagners Tristan und Isolde leblos zusammengebrochen – angeblich immer an derselben Partiturstelle. Vor allem der berühmte „Tristan-Akkord“ (f-h-dis’-gis’) stand im Verdacht, seelische Erschütterungen auszulösen. Auch manche Sinfonie – Schuberts „Unvollendete“, Tschaikowskys Pathétique – hatte den Ruf, ein Todbringer zu sein.
Musik macht krank
Tod durch Musik? Wäre das nicht der perfekte Mord? Der Gedanke ist gar nicht so abwegig. Neuere Studien scheinen zu belegen, dass das Hören von Wagners „Walkürenritt“ beim Autofahren das Unfallrisiko erhöht und dass wir überhaupt bei lauter und schneller Musik mehr rote Ampeln übersehen. Die Radiostationen wissen das natürlich und gestalten daher ihr Musikprogramm seit Jahren möglichst eintönig. Sollte eines Tages auch die Verkehrspolizei von diesen Zusammenhängen Wind bekommen, wird man bei Unfallfahrern künftig wohl nicht nur den Alkoholspiegel testen, sondern auch den Musikgeschmack. Derartige Studien behaupten übrigens auch, dass Flöten-Staccati bei der Arbeit stören und Countrymusik die Suizidgefahr erhöht – Erkenntnisse, für die es freilich keiner wissenschaftlichen Untersuchung bedurft hätte. Wer den Film Mars Attacks kennt, weiß längst, dass Countrymusik sogar für Aliens tödlich ist.
Sollten Sie an einer chronischen Erkrankung leiden, müssen Sie auf alle Fälle beim Musikhören ganz, ganz vorsichtig sein. Denn Musik steigert die Atemfrequenz, erhöht den Blutdruck, aktiviert den Muskeltonus, bringt den Puls auf Fahrt. Musik kann nervöse Störungen, Herzbeschwerden und Kreislaufzusammenbrüche auslösen, sogar Anfälle von Epilepsie und Tourette. Bei einer psychiatrischen Studie an Orchestermusikern wurde festgestellt, dass Kompositionen von Karlheinz Stockhausen auch zu Schlaflosigkeit und Impotenz führen. Penderecki dagegen bewirkt Kopfschmerzen, Magenverstimmungen und Durchfall. Im alten China hat man die Musik sogar tatsächlich als Tötungsmittel eingesetzt. Wurde eine Todesstrafe verhängt, lautete die polizeimeisterliche Anweisung: „Flötenspieler und Trommler sollen ihm so lange vorspielen, bis er tot zu Boden sinkt.“ Ob die Flötenspieler für den tödlichen „Blow“ eine besondere Ausbildung brauchten, ist nicht überliefert.
Auch Naturvölker wussten immer schon über die bösen Zauberkräfte der Musik Bescheid. Ganze Dynastien begründeten sich auf dem Terror der Klänge. Wollte man einen westafrikanischen Häuptling entmachten, blieb einem nichts anderes übrig, als ihm sein dämonisches Balafon zu stehlen. Und als Kolumbus einst versuchte, die friedlichen Indianer mit fröhlichen Klängen auf sein Schiff zu locken, vermuteten diese sofort etwas anderes dahinter: schwarze Musikmagie. Sie hörten augenblicklich auf, friedlich zu sein, und beschossen die Spanier wütend mit ihren Pfeilen. Vielleicht waren die spanischen Seeleute aber auch miserable Musikanten.
Musik macht gesund
Letztlich kommt es auf die Dosierung an. Strychnin, Arsen, Eisenhut oder Giftefeu sind im Allgemeinen für den Verzehr nicht zu empfehlen. Dennoch kommen sie in der Homöopathie bei bestimmten Symptomen in kontrollierter Dosis zum Einsatz. Warum also sollte der starke Einfluss der Musik auf Geist und Körper nicht auch heilsam stimulierende Effekte haben? In den Lazaretten des Zweiten Weltkriegs, als oft die passenden Medikamente und Schmerzmittel fehlten, war die Musiktherapie sozusagen eine Notlösung. Heute wird Musiktherapie vor allem bei psychischen Leiden eingesetzt – Träumen, Psychosen, Phobien –, ebenso bei neurologischen Schädigungen wie Parkinson, MS und Aphasie oder bei Koma-Patienten. Auch im Fall von Erkrankungen mit erfahrungsgemäß hoher Beteiligung der Psyche verspricht die Musiktherapie Linderung, so bei chronischen Schmerzen, Essstörungen, Bluthochdruck, Migräne, Tinnitus, selbst Rheuma. Im Grunde ersetzt Musik gleichzeitig Aufputschmittel, Psychopharmaka, Amphetamine und Tranquilizer. Mit einem gut sortierten Schallplattenregal kann jeder heute selbst zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen beitragen.
Weil wir immer gestresst sind, sanfte Klänge aber die Stresshormone reduzieren können, verfolgt uns Musik längst überall, wo man entspannte Menschen haben will. Beim Zahnarzt zum Beispiel, im Kreißsaal, beim Einsteigen ins Flugzeug, in der Telefon-Warteschleife, im Fahrstuhl, in U-Bahn-Stationen, beim Einkaufen, im Restaurant, selbst auf öffentlichen Toiletten. Für Letzteres sollten wir besonders dankbar sein, denn Musik fördert selbstverständlich auch noch den Stoffwechsel und die Verdauung. Firmen wie die 1937 gegründete Marke „Muzak“ produzieren gezielt Kaufhaus-, Fahrstuhl- und Arbeitsplatzmusik nach wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wenn wir im Warenparadies durch eine „akustische Klimaanlage“ musikalisch berieselt werden, verlängern wir angeblich unseren Aufenthalt dort und geben mehr Geld aus.
Der Markt für musikalische Wellness-Therapien wächst und wächst. Es gibt ergonomisch designte Wippliegen auf Resonanzröhren, anzuschließen an jede Musikanlage. Oder Nackenmassage-Geräte mit zuschaltbarer „Klangkulisse“. Es gibt Musikwände, Musikigel, Musiksessel, Musikbetten, Musiksitzsäcke – alle fürs klanggesteuerte Wohlbefinden. CD-Serien mit Meditations-, New-Age- oder Adagio-Musik spekulieren auf unseren Glauben an die heilsame Wirkung sanfter Töne.
Auch das Lernen soll mit Musikbeschallung besser funktionieren – und das sogar im Schlaf. Wer an die Kräfte des Universums glaubt, vertraut gar auf Planetentöne: Das sind die Schwingungs-Tonhöhen der Himmelskörper, aber um einige Oktaven transponiert und in Musikstücke eingebracht. Bei der „Phonophorese“ werden Planetenklänge mit einer Stimmgabel auch direkt auf Akupunktur-Punkte gesetzt. Besonders erstaunliche Ergebnisse soll das Klangwerk Erd-Tageston in G in einem Amsterdamer Bordell erbracht haben. Darüber wüsste man gerne mehr.
Mozart macht schlau
Gibt es etwas, das die Musik nicht zustande bringt? Selbst Tiere und Pflanzen sind ihrer Macht ja völlig hilflos ausgeliefert. Orpheus zähmte mit seiner Leier einst die wilden Löwen, in Hameln fing man Ratten mit Spielmannsmusik und der indianische Musikgott Kokopelli lässt noch immer jedes Jahr mit seinem Flötenspiel den Mais wachsen und macht, dass sich die Tiere vermehren.
Wissenschaftliche Untersuchungen zur Wirkung von Musik auf Hunde, Katzen und Kaninchen gab es schon im 19. Jahrhundert. In Amerika, das weiß man heute, mögen Geranien und Philodendren keine Steeldrums hören, dafür aber Musik von Ravi Shankar. In Nordrhein-Westfalen lieben Milchkühe Barockmusik mehr als den Melker. Ratten, so hieß es einmal, finden leichter durchs Labyrinth, wenn sie vor ihrer Geburt schon an Mozart gewöhnt wurden. Später stellte man fest, dass Ratten vor ihrer Geburt völlig taub sind.
Überhaupt Mozart. Der ist ja der Liebling aller besorgten Menscheneltern, seitdem 1993 der „Mozart-Effekt“ publiziert wurde. Es ist so einfach: Lasst eure Kinder Mozart hören – und schon springt ihr IQ um zehn Punkte nach oben! Als das bekannt wurde, waren die Mozart-CDs sofort ausverkauft, Klassenzimmer wurden mit Mozart beschallt, der „Mozart-Effekt“ sogar patentiert. Mit einiger Sicherheit lässt sich heute sagen, dass das frühe Erlernen eines Musikinstruments tatsächlich Einfluss auf die Entwicklung der Gehirnstruktur hat. Auch wurde nachgewiesen, dass durch regelmäßiges Üben auf einem Instrument ständig neue Synapsen im Gehirn gebildet werden. Nur der Mozart-Effekt – Intelligenz durch bloßes Hören –, der konnte nie mehr bestätigt werden. Wahrscheinlich hat es nur mit einem ganz bestimmten Stück funktioniert, in einer ganz bestimmten Aufnahme, in einem ganz bestimmten Labor. Und eben nur 1993.
Auf einen ganz anderen „Mozart-Effekt“ setzen manche Behörden, die gewaltgefährdete öffentliche Orte schützen wollen. Sie beschallen sie mit Mozart-Musik, um damit Rowdys und Junkies zu vertreiben. In Neuseeland hat man auch gute Erfahrungen mit Barry Manilows „Mandy“ gemacht: Die zickige Schnulze fegte alle dubiosen Gestalten umgehend vom Parkplatz eines Shopping-Centers. Auch Marder und Maulwürfe soll man mit Musik gut „vergrämen“ können. Da muss es aber weder Mozart noch Manilow sein.
Voodoo und Veitstanz
Der entscheidende Schlüssel zur Macht der Musik über uns heißt: Rhythmus. Wenn der Puls oder Beat einer Musik als rhythmisches Nervensignal im Gehirn ankommt, wirkt er sich dort vermutlich direkt auf die rhythmischen Impulse des vegetativen Systems aus: auf Atem und Herzschlag. Allerdings schwingen wir uns auch ganz bewusst auf den Rhythmus ein: durch Kopfnicken, Schunkeln, Schaukeln, Fußwippen, Fingerschnippen und natürlich das Tanzen. Diese Verknüpfung von Musik- und Körperrhythmus kann im Gehirn geradewegs zu „Rückkopplungen“ führen und – besonders unter Mithilfe von Drogen – auch Ekstasen und Ohnmachten auslösen. Schamanen, Sufi-Derwische oder Voodoo-Gläubige tanzen sich regelmäßig zu Trommelmusik in Trance. Auch aus der europäischen Geschichte sind Fälle ekstatischer Tanzwut überliefert. An Rhein und Mosel stiegen im Sommer 1374 schon etliche Rave-Partys: „also daß Leut anhuben zu danzen und zu rasen […] und danzeten auf einer Stätt ein halben Tag“, wie die Limburger Stadtchronik berichtet.
Besitzt die Musik starke Bassfrequenzen, eine gewisse Dauer, deutliche Steigerungen, sich wiederholende Muster, kleine Tonumspielungen, vorwiegend kleine Melodieschritte und einen kleinen Tonumfang, dann kann die Trance-Induktion durch Rhythmus und Körperbewegung besonders gut wirken. Wichtig ist wohl auch die Lautstärke: Heftige Schallwellen werden vom Gleichgewichtsorgan als lustvoll empfunden (wie ein Schaukeln) und lösen sofort einen Bewegungsreflex im Nacken aus. Rhythmus und Tanz erhöhen dann schnell den Adrenalin-Spiegel, steuern die Gehirnwellen und können unser Zeitgefühl verändern. So vermag uns die Musik in einen anderen Bewusstseinszustand zu führen – hinein in eine Trance oder auch heraus aus einem Koma. Ein kleines bisschen davon bemerken wir bei jedem Musikhören. Musik macht etwas mit uns.