ALBUMDOPPEL: Lou Reed – Angel Corpus Christi
Es gibt nicht nur Coverversionen von Songs. “Gecovert” werden auch die Plattenhüllen. Das gecoverte Cover: Ist es witzige Anspielung, respektvolle Verehrung, Parodie – oder hat es einen tieferen Sinn?
Für Lou Reed war Musik die Rettung. Schon als Jugendlicher hatte er mentale Probleme, musste sich einer Elektroschocktherapie unterziehen, geriet früh an Drogen. Mit 18 aber begeisterte er sich für Free Jazz und Beat-Literatur und wollte diesen Spirit in Songs übersetzen – der Rock’n’Roll wurde sein „Gott“. Seine erste Band gründete er 1964: Sie hieß „The Primitives“, später „The Velvet Underground“. Bekannt wurde die Gruppe, als der exzentrische Avantgarde-Künstler Andy Warhol sie zu fördern begann. Doch allzu lange hielten sie es alle nicht mit Lou Reed aus: Nico, John Cale, Warhol, einer nach dem anderen verließen sie das Projekt wieder. 1970 ging auch Reed selbst und startete eine Solokarriere. Transformer (1972) war sein zweites Soloalbum – und der Einfluss von Warhol noch allgegenwärtig. Mehrere Stücke auf dem Album handeln von „Andy“ und seinem hippen Halbwelt-Gefolge aus Drogendealern, Dragqueens und Prostituierten.
Lou Reeds wurstig-lapidarer Tonfall, obercool und protopunkig, sein flapsiger Sprechgesang, seine schlampige Intonation … Ein früher Kritiker nannte das Album einfach „gekünsteltes Homo-Zeugs“. Und ausgerechnet der androgyn auftretende Brite David Bowie war der Produzent und auch noch richtig stolz darauf: „Lou brachte den Rock in die Avantgarde-Szene.“ Der Hit des Albums: „Walk On The Wild Side“, Lou Reeds einziger Top-20-Erfolg.
Holly, Candy und Little Joe …
Die Songidee beruhte auf einem Roman von Nelson Algren (1956), und dieser Roman wiederum war angeregt von einem früheren Popsong: „The Wild Side Of Life“ (1952). In seinen Lyrics porträtiert Reed einige Typen aus der Warhol-Clique, Holly, Candy, Little Joe … Es geht da in knappen Worten um solche Themen wie Oralsex, Drogen und Transgendering, weshalb der Song damals in verschiedenen Ländern, auch in den USA, zensiert und gekürzt wurde. Musikalisch erwähnenswert ist die doppelte Bassspur (akustisch und elektrisch), für die der Bassist Herbie Flowers auch doppelt bezahlt wurde (zweimal 12 Pfund). Und natürlich das kurze Baritonsax-Solo am Ende. Ronnie Ross war der Saxofonlehrer von Bowie, ein Aktivposten der britischen Jazzszene und ein gern gesehener Gast bei Pop-Produktionen (auch bei den Beatles, Matt Bianco usw.).
Perfekter Song für einen perfekten Tag
Ebenfalls berühmt wurde der Song „Perfect Day“, eine Ballade über einen romantischen Tag im Central Park. (Reed hatte frisch geheiratet.) Hartnäckig hielt sich zwar das Gerücht, es sei ein versteckter Drogensong, aber Reed hat das immer abgestritten. „Perfect Day“ wurde in vielen Filmen und Werbespots verwendet und mehrfach von bekannten Kollegen gecovert. Den größten Erfolg hatte eine BBC-Version zu Weihnachten 1997, die eine Allstar-Besetzung aufbot. Auch „Satellite Of Love“ wurde ein Evergreen. Bowie ist hier mit hohem Backgroundgesang zu hören. Morrissey, Beck, Leo Sayer, die Eurythmics und andere haben den Song später ebenfalls aufgenommen.
Und dann war da noch die Sache mit der Albumhülle. Der englische Fotograf Mick Rock arbeitete damals dauerhaft für David Bowie, der ihn Lou Reed vorstellte. „Lou war eindeutig ein Genie und ein einzigartiger Mensch“, meint Rock. Er fotografierte den Amerikaner 1972 bei einem Auftritt in London im damaligen Kings Cross Cinema. Als er die Fotos entwickelte, ging etwas schief, und der Hell-Dunkel-Kontrast geriet extrem. Doch nicht nur der Fotograf fand diesen Effekt interessant – das etwas gespenstisch wirkende Foto wurde prompt fürs Frontcover ausgewählt. (Zehn Jahre später hat man es für Reeds Album The Blue Mask noch einmal verwendet.) Ein Kritiker schrieb, Reed sähe hier aus wie ein „verweiblichtes Frankenstein-Monster“. Von da an galt Lou Reed definitiv als schwul. (Die Fotos auf der Rückseite der Plattenhülle sollten diesen Eindruck noch unterstreichen.)
Vielschichtige Coversammlung
Das Album von Angel Corpus Christi ist eine liebevolle und unterhaltsame Verbeugung vor diesem Lou Reed. Angel Corpus Christi heißt eigentlich Andrea Ross. Die kalifornische Independent-Rockerin, Avantgarde-Sängerin und Akkordeonistin machte ihre erste Platte 1985. Ihr Tributalbum Louie Louie erschien 2005 und enthält zwölf Songs – „von, für und über“ Lou Reed. Genauer gesagt sind zehn der zwölf Songs von ihm – nur ein einziger („Lou Reed’s Hair“) stammt von Andrea Ross und ihrem Partner Rich Stim. Und was das Titelstück „Louie Louie“ angeht, so verbirgt sich dahinter tatsächlich der alte, bekannte R’n’B-Song von 1955, den Ross hier unverzagt an Lou Reed „umwidmet“. Außerdem verwendet sie noch Serge Gainsbourgs Säuselhymne „Je T’aime“, die sie in den Reed-Song „I Want To Boogie With You“ einmontiert.
Überhaupt ist das Album gewitzt gemacht – und das mit einfachsten Mitteln. Das Akkordeon spielt meistens ohne viel Variation eine Grundfigur, um die sich dann Keyboards, Gitarre, Bass, Schlagzeug, Elektronik und Sounds gruppieren. Eine Handvoll mehr oder weniger namhafter Gastmusiker haben mitgeholfen. Im Mittelteil der Songs macht sich gelegentlich ein dissonantes Punk-Feeling breit. Das Beste aber ist Andrea Ross’ Stimme – nicht weniger cool als Lou Reed, manchmal sphärisch-mädchenhaft, dann wieder indie-typisch schnodderig, zuweilen per Overdub verdoppelt. Zwei Stücke sind als Instrumentalnummern eingespielt. Jedenfalls kann man Lou Reeds Songs hier einmal auf ganz andere Art erleben. „Angel haucht ihnen neue Relevanz ein“, schreibt der Journalist Joe Viglione.
Lou Reed: Transformer, 1972 (RCA 07863 65132 2)
Angel Corpus Christi: Louie Louie, 2005 (Gulcher Records o. Nr.)