Album-Doppel: Miles Davis und Billy Jenkins
Ein rötliches Gelb, ein bräunliches Rot. Es sind die Farben der andalusischen Stierkampf-Arena.
Der Maler Pablo Picasso hat diese Farben in seinen Bildern immer wieder zitiert – signalartig, andeutungsweise. Die schwarzen Silhouetten-Figuren erinnern erst recht an Picasso: der Stier und der Stierkämpfer. Nur dass der Stierkämpfer hier eine Trompete bläst, den Oberkörper zurückgelehnt, das Becken nach vorne gedrückt, das Instrument nach unten gerichtet. Eine Haltung, so typisch für Miles Davis, dass man ihn geradezu vor sich sieht. Miles Davis reizt den spanischen Stier mit seiner Trompete. Er lockt ihn an, er weckt seine Neugierde, er macht ihn unruhig, er besänftigt ihn wieder. Miles Davis meinte es ernst mit seinem musikalischen Ausflug nach Spanien. Das war 1959.
Der Bassist Joe Mondragon soll den Trompeter damals auf den spanischen Komponisten Joaquín Rodrigo aufmerksam gemacht haben. Genauer gesagt: auf dessen berühmtestes Gitarrenkonzert, das „Concierto de Aranjuez“. Noch genauer gesagt: auf den zweiten Satz daraus, das Adagio. Eine Melodie, die immer stärker werde, je sanfter man sie spiele – so meinte Miles. Ein Thema, das seitdem unaufhörlich durch Jazz, Rock und Pop geistert. Damals lief Miles damit zu Gil Evans, seinem weißen Jazzbruder, dem experimentellen Alchimisten des Jazzorchester-Klangs. Seit zehn Jahren arbeiteten die beiden schon zusammen, zuletzt hatten sie sich an Gershwins „Porgy And Bess“ versucht – Miles’ existenzielle Trompetenstimme, kombiniert mit einer emanzipierten Bigband. Nun sollte sich Gil Evans des Themas Spanien annehmen. Er re-komponierte Rodrigos Adagio, bediente sich außerdem bei Manuel de Falla, bei einem peruanischen Flötenlied, der andalusischen Passionsmusik, dem Flamenco. Er schrieb die komplexeste, raffinierteste Jazzpartitur aller Zeiten. Und ließ dabei noch Räume offen für Miles’ unnachahmlich melancholische Trompete. Es entstand eine Musik, in der die südspanische Hitze flimmert. Schrill und oszillierend zugleich. Die Arena zittert, der Staub bebt. Ein rötliches Gelb, ein bräunliches Rot.
An „Sketches Of Spain“ schieden sich die Geister – von Anfang an. Für die einen war dieses Album eine geniale Durchbrechung von Jazzklischees und eine innovative Erweiterung von Stilgrenzen. Für die anderen war es ein Verrat an der Ethik und Ästhetik des Jazz, eine Unterwerfung unter das Primat europäischer Kultur. Wie auch immer: Dieses Album ist etwas Besonderes. Es ist Impressionismus, Picasso und Cool Jazz in einem. Der Inbegriff der Kombination „Jazz + Spanien“. Billy Jenkins konnte gar nicht daran vorbei.
Die beiden Covers gleichen sich auf den ersten Blick sehr. Finden Sie erst mal fünf Unterschiede! Natürlich heißt Miles jetzt Billy. Aus den „Sketches“ (Skizzen) wurden „Scratches“ (Kritzeleien). Aus Gil Evans das Voice Of God Collective. Die kleine Trompeterfigur ist jetzt ein Gitarrenspieler und hält das Instrument ekstatisch auf Brusthöhe. Am hübschesten ist der kleine Esel, der den wilden Stier ersetzt hat. El burrito hat so etwas Bescheidenes, Eigenbrötlerisches, Un-Martialisches an sich. Er ist kein Held für die blutrünstige Arena, eher ein Held für den Streichelzoo. Der kleine Esel steht für ein anderes Spanien, ein fröhliches, ein volkstümliches. Das Spanien von Billy Jenkins.
Der Brite macht Musik für Freigeister, Zyniker, Clowns, Sozialkritiker, Dadaisten. Seine Gitarre bewegt sich zwischen Jazz und Blues, Rock’n’Roll und Heavy Metal – nicht zu verorten, schwer einzufangen, ein störrisches Irrlicht. Ausgangspunkt für sein Album soll eine Spanien-Tournee mit Ginger Baker gewesen sein. Davon berichten die Städtenamen in den Stücktiteln: Barcelona, Bilbao, Benidorm. Man ahnt auch, welche Musik Jenkins in Spanien gehört hat: Blasorchester, Straßenkapellen, Tanzbands. Sein Album ist laut, unordentlich, fröhlich, wild. Es gibt schräge Bläser und verrückte Keyboards.
Musikalisch haben die beiden Platten also wenig miteinander zu tun – zunächst jedenfalls. Jenkins’ Musik ist sicherlich kein Cool Jazz. Sein Spanien ist nicht das Spanien der Stierkämpfe und Passionszüge – ihn beschäftigen mehr die Küche und die Autostraßen des Landes. Aber immerhin: Auch Jenkins’ Ensemble ist ziemlich groß. Das Voice Of God Collective umfasst (mit ihm) 18 Musiker, ein Who-is-who der jungen britischen Jazzszene von 1987. Django Bates ist dabei, Iain Ballamy, Steve Argüelles. Kritiker haben „Scratches Of Spain“ mit den energiegeladenen Ensemble-Abenteuern eines Sun Ra oder Charles Mingus verglichen. Das Album ist respektlos, undiszipliniert, spontan. Gewissermaßen bildet es ein extremes Gegenstück zum orchestralen Kunstwerk von Miles und Evans. Es ist wie der clevere Esel im Verhältnis zum stolzen Stier. Vielleicht gibt es sogar mehr Bezüge zwischen den beiden Alben, als man so denkt. Einige Kritiker haben da erstaunliche musikalische Details entdeckt.
Miles Davis: Sketches Of Spain (CBS CK 65142)
Billy Jenkins: Scratches Of Spain (SLICE 13)