Album-Doppel: Portishead – Wat Tyler
Englische Angelegenheiten
Die Geschichte beginnt in der Küche der Sängerin Neneh Cherry. Dort nämlich lernten sie sich kennen, Beth Gibbons und Geoff Barrow, Anfang 1991. Barrow war damals erst 19, hatte einen Job in den Coach House Studios in Bristol und steuerte dort zu diversen Musikproduktionen seine technische und künstlerische Expertise bei. Neben Neneh Cherry beriet er damals u. a. auch Massive Attack, Tricky und Depeche Mode. Mit der Sängerin Beth Gibbons verstand er sich offenbar auf Anhieb – schon 1991 entstand ihr erster gemeinsamer Song, „It Could Be Sweet“. Den hörte auch Adrian Utley, ein Jazzgitarrist, der bereits mit Art Blakey und Big John Patton aufgetreten war. Utley machte ein paar Vorschläge, die die beiden inspirierend fanden, und stieß zum Kernteam des Projekts hinzu. Erst nach dem ersten Album – nämlich Dummy – wurde Utley ein offizielles Mitglied der Band. Welcher Band? Portishead natürlich. Benannt nach dem Vorort von Bristol, wo Geoff Barrow aufgewachsen war.
Als das Debüt 1994 erschien, war der Genre-Begriff für diese neue Variante des „Bristol-Sounds“ noch ganz neu. Er lautete: Trip-Hop. Das sollte heißen: Hip-Hop mit Qualitäten eines Soul-Trips. Die Tempi sind langsam, das Feeling ist hypnotisierend, die Sounds extrem reduziert. Ein bisschen Fender Rhodes oder Hammondorgel, ein paar Töne auf der Gitarre, ein Drumbeat, oft von der Maschine. Dazu kommen hier kleine, verfremdete Samples (u. a. von Isaac Hayes, Lalo Schifrin, Weather Report), etwas Scratching, Loops und das Knistern alter Schallplatten. Angeblich haben die Musiker die Platten selbst mit den Füßen traktiert, um sie vorsätzlich zu beschädigen. Auch die Stimme von Beth Gibbons wirkt manchmal verfremdet, ganz ins Ätherische verdünnt. Die Presse fand ihren Gesang engelsgleich oder zerbrechlich – er lasse an einen verwundeten Sperling denken. Einer der ersten Kritiker nannte Gibbons eine „Sade für Androiden“.
Auf jeden Fall traf das Album den Zeitgeist ins Herz. Für den Melody Maker war die Band „das eleganteste, coolste Ding seit Jahren“. Man hörte diese elf gespenstischen Debüt-Songs als „avantgardistische Ambient-Mondlandschaften“, als Soundtrack für einen kommenden Film noir, als „Gothic Hip-Hop“, als „Lounge-Musik für kunstbeflissene Verrückte“, als die Wiedergeburt des „Cool“. In Portisheads Trip-Hop-Gebräu steckten laut Fachpresse Elemente aus zahlreichen Stilarten, darunter Blues, Funk, Jazz, Soul, Hip-Hop, Dub und Filmmusik. Die durchweg melancholische Stimmung der durchweg langsamen Stücke erfuhr eine fast schon existenzialistische Ausdeutung. Verzweifelt, trostlos, klaustrophobisch seien diese Songs, von einem großen emotionalen Hunger getrieben, so hieß es. Eine Textprobe: “Unable, so lost / I can’t find my way / Been searching but I have never seen / A turning from deceit / I can’t understand myself anymore / But I’m still feeling lonely / Feeling so unholy” … In diesem Ton geht das Song für Song. Beth Gibbons schrieb alle Texte selbst.
Ein Journalist des New Musical Express war überzeugt, dass Portishead einfach „zu unkonventionell, zu introspektiv und zu Bristol-typisch“ seien, um ein großes Ding zu werden. Er irrte sich gewaltig. Allein schon im UK erhielt das Album dreifaches Platin – das war in den 1990ern noch eine ziemliche Marke. Man kann sagen: Portishead haben den Trip-Hop im Alleingang populär gemacht. Das Album Dummy, dem sie drei Jahre lang kein neues folgen ließen, wurde der Inbegriff eines hippen Trendsounds. Kein Wunder, dass die englische Punkband Wat Tyler das Albumcover 1995 als Vorlage für ihre Compilation (1989–1994) nahm. Statt des Originalfotos (es entstammt einer Portishead-Filmproduktion) sieht man einen nackten Männerbauch – „tummy“ heißt „Bäuchlein“. Albumcover-Parodien waren ohnehin eine Spezialität von Wat Tyler – auch Madonna und The Prodigy mussten dran glauben.
Überhaupt besaß diese Band viel schrägen Humor. Die 43 (!) Songs auf Tummy enthalten jede Menge textliche und musikalische Anspielungen – die meisten dürften für Nicht-Engländer kaum verständlich sein. („Hops and Barley“ ist eine Biermarke, Perry Groves ein Fußballspieler.) Volksweisen wie „God Rest Ye Merry Gentlemen“ oder „For He’s A Jolly Good Fellow“ werden witzig-satirisch verfremdet, Heavy Metal und Oper durch den Kakao gezogen, bekannte Songs von Led Zeppelin, Stevie Wonder, Leatherface, den Kinks, den Troggs veralbert und missbraucht. Es ist ein Punk-Album, aber eines mit hohem Unterhaltungswert. Hin und wieder hört man sogar eine akustische Gitarre.
Benannt hatten sich Wat Tyler übrigens nach einem aufständischen Bauernführer aus dem 14. Jahrhundert. Smithy (Peter Smith) an der Gitarre, Tuck (Simon Tucker) am Bass und Sean (Sean Forbes) am Schlagzeug – das war die eigentliche Band. Alle drei singen auch, dazu kommen auf dieser Compilation sechs Gastvokalisten, darunter die durchaus hörenswerte „Julie“. Selbstverständlich ist die Sprache durchgängig punkig, rotzig und reichlich unanständig. Die Stücke tragen Titel wie „Fuck Pump“ oder „We Curse You A Wicked Satan“. Der Titel „Smells Like Dog Poo“ spielt natürlich auf den großen Nirvana-Hit von 1991 an. „It Makes Me Belch“ nennt als gute Gründe zum Rülpsen u. a. Sting und Cher. Alle Songtexte sind abgedruckt und ausnahmslos launig kommentiert. Die Band nennt ihr Album „a crappy compilation“.
Portishead: Dummy (Go! Beat 828 553-2)
Wat Tyler: Tummy (Lookout! Records 125 CD)