Album-Doppel: Lee Morgan Corbread – Eddie Henderson Anthology
Trompeter im Quadrat
Lee Morgan war einer der brillantesten Trompeter, die die Jazzwelt je gehört hat. Wenn er auf seinem Instrument improvisierte, reihte er nicht einfach nur Töne aneinander – er „sprach“ quasi in Haupt- und Nebensätzen. Bei Morgan bekam jede Note ihren eigenen Tonfall, jede Phrase ihren besonderen Rhythmus, sogar jede Pause ihren Sinn. Sein Trompetenspiel klingt noch heute, als hätte er uns selbst mit kleinen Vorschlagsnoten und perkussiven Ansatztönen etwas Wichtiges mitzuteilen. Ähnlich beredt hatte im Reich des Bop vorher nur einer geklungen: der legendäre Clifford Brown – bei ihm hatte der junge Morgan einst auch ein paar Stunden Unterricht gehabt. Schon mit 19 Jahren machte er dann sein Debütalbum als Bandleader, und im gleichen Jahr (1958) spielte er bei Art Blakey vor – in Konkurrenz mit dem gleichaltrigen Freddie Hubbard. Den Job bekam Lee Morgan – und machte daraufhin fast 20 Platten mit Blakeys Jazz Messengers. Aufgrund von Drogenproblemen verließ er die Band 1961 und wurde durch Hubbard ersetzt.
1963 dann hatte Lee Morgan ein sensationelles Comeback – falls „Comeback“ bei einem 24-Jährigen das richtige Wort ist. Das Album The Sidewinder jedenfalls kletterte völlig unerwartet in die amerikanischen Pop-Charts und warf damals die Welt des Jazzlabels Blue Note völlig aus den Fugen. Schuld daran war das Titelstück, ein auf 24 Takte gestreckter Blues mit einem straighten Achtachtel-Soul-Beat – „The Sidewinder“ wurde einer der großen Jazz-Hits der sechziger Jahre. (An die anderen sechs Stücke auf dem Album erinnert sich heute kein Mensch mehr.) Um an diese tanzbare Souljazz-Nummer anzuknüpfen, schrieb der Pianist Andrew Hill für Morgans Folgealbum einen „zweiten Sidewinder“ – der Titel: „The Rumproller“. Der Trompeter schien eine sichere Bank zu sein. Doch dann beging das Label den Fehler, ein Lee-Morgan-Album zu veröffentlichen, das keine tanzbare Nummer enthielt. Die Retouren der Plattenhändler brachen Blue Note fast das Genick. Damit war klar: Kein Lee-Morgan-Album mehr ohne einen Souljazz-Kracher!
Es folgte: Cornbread. Morgan selbst schrieb den Titelsong, wie gewünscht ein Stück in der Machart des „Sidewinder“, mit bluesigen Bläserfiguren, Gegenmotiven, Bass-Vamp. Die übrigen vier Stücke waren musikalisch gesehen aber ebenso interessant. „Our Man Higgins“ ist ein Feature für Billy Higgins, den feinnervigsten Studiodrummer der 60er und 70er Jahre. Eigenwillige zweitaktige Themaphrasen wechseln sich ab mit seinen zweitaktigen Drumfills. Das wunderschöne „Ceora“ (überm Samba-Beat) wurde zu Morgans bekanntester Ballade. „Ill Wind“ ist die langsame, gefühlvolle Standard-Nummer des Albums (Morgan mit Dämpfer!). Und „Most Like Lee“ liefert zum Schluss swingenden Uptempo-Hardbop. Der Trompeter ist als Solist in Top-Form und inspiriert seine Nebenleute ebenfalls zu großen Improvisationen – vor allem Jackie McLean (Altsax), Hank Mobley (Tenorsax) und Herbie Hancock (Piano).
Die rote Plattenhülle mit Morgans quadratischem Porträt in der Mitte und dem viermaligen „Cornbread“ im Bildumlauf – sie wurde einer von vielen Coverklassikern aus dem Hause Blue Note. Und sie ist für einen Jazztrompeter quasi aus der zweiten Reihe eine willkommene optische Referenz. Eddie Henderson, nur wenig jünger als Lee Morgan, betrieb die Musik lange Zeit auf einer Parallelschiene neben seinem Medizinberuf. Bis 1985 praktizierte Dr. Henderson als Allgemeinarzt in einer kleinen Klinik in San Francisco. Musikalisch hat ihn besonders die 70er-Jahre-Funk-Fusion-Periode von Miles Davis inspiriert – Miles war ein Freund seiner Eltern. Als technisch kompetenten Miles-Epigonen hörte man Henderson auf Herbie Hancocks Electric-Funk-Alben Mwandishi, Crossings und Sextant. Und da Miles mit seiner „fusion trumpet“ großen Erfolg hatte, versuchte es auch Henderson auf diesem Feld als Solokünstler. In den Siebzigern machte er mehrere modische Funk-Jazz-Alben für Blue Note und Capitol, meistens unterstützt von Hancocks Truppe.
Das Album Anthology (2000) ist eine Compilation aus vier dieser Platten, die im Original zwischen 1974 und 1978 erschienen sind. Die Rhythmen pendeln zwischen Funk und Disco, es gibt reichlich E-Piano, Clavinet, E-Bass, Wah-Wah-Gitarre, synthetische Streicher, Bläsersätze, auch Background-Gesang. Man sieht die Schlaghosen, bunt bedruckten Hemden und Nickelbrillen der Akteure gleichsam vor sich. Was immer man vom kommerziellen Fusion-Funk-Jazz der siebziger Jahre auch halten mag: Eddie Hendersons trompeterischen Stärken kam die damals angesagte Stilistik sehr entgegen. Sein Spiel glänzt vor Souveränität. Mit seinen Mitstreitern zieht er sich hochprofessionell aus der Affäre.
Es sind in der Tat große Namen im Spiel. Neben Herbie Hancock – dem Bindeglied zum Lee-Morgan-Album – hören wir George Cables, George Duke, Billy Hart, Bobby Hutcherson, Alphonso Johnson, Hubert Laws, Bennie Maupin, Julian Priester, Lee Ritenour u.a. – die Crème der Szene. Die illustren Mitstreiter lieferten auch die Kompositionen, die auf der Compilation versammelt sind. Von George Duke kam das schnelle, virtuose „Explodition“ (Track 4), vom Funk-Drummer Harvey Mason das rhythmisch raffinierte „Hop Scotch“ (Track 7), und aus dem Repertoire der Headhunters lieh sich Henderson den Standard „Butterfly“ (Track 8), eine Kollaboration von Hancock und Maupin. Sogar einen Hit hatte Henderson damals: Das tanzbare „Prance On“ (Track 11) kam in Großbritannien tatsächlich in die Single-Charts.
Lee Morgan: Cornbread (Blue Note CDP 784 222 2)
Eddie Henderson: Anthology (Soul Brother Records CD SBPJ 3)