Album-Doppel: Keith Jarrett vs. Will C.
Das Quartett des Saxofonisten Charles Lloyd gehörte 1967 zu den erfolgreichsten Bands des Jazz. Dieser Formation gelang es nämlich, die Grenze zum Pop zu überspringen und auch ein junges Rockpublikum zu begeistern. Die Musiker trugen auf der Bühne bunte Hemden statt dunkler Anzüge, sie galten als „die erste psychedelische Jazzband“, die ersten Hippies im Jazz. In ihrer Musik verbanden sie rockende Soulrhythmen mit Coltrane-artigen Jazz-Ekstasen. Keith Jarrett hieß der junge Pianist dieses Quartetts – er war ein Grenzgänger von Anfang an. In Jarretts Klavierspiel steckte einiges vom weißen Folkrock und manches vom schwarzen Soul. Er war ein außergewöhnlicher Virtuose, aber gleichzeitig offen für harmonische Abenteuer und wilden Free Jazz. Eine ungewöhnliche Kombination bei einem Pianisten.
Im Mai 1967 entstand auch Keith Jarretts Debütalbum unter eigenem Namen: Life Between The Exit Signs. Ein Pianotrio, richtig – aber was für eines! Am Bass: Charlie Haden, berühmt geworden im Quartett des Free-Jazz-Vaters Ornette Coleman. Am Schlagzeug: Paul Motian, langjähriger Begleiter des feinsinnigen Bill Evans. Haden und Motian – beide deutlich älter als Jarrett – waren damals schon kleine Legenden, aber sie schienen nur schwer vereinbar: der „freie“ Orgelpunkt-Bassist und der „filigrane“ Trommelzauberer. Die Fans von Ornette Coleman waren in der Regel keine Fans von Bill Evans – und umgekehrt. Doch Keith Jarrett, gerade erst 22 geworden, wusste offenbar genau, was er tat. Harmonische Befreiung und pianistische Delikatesse waren für ihn keine Widersprüche. „Nie zuvor hatte ich mit einem Pianisten gespielt, der hin und wieder einfach die Akkordstruktur verließ und frei spielte“, stellte Charlie Haden fest. Heute gilt dieses Trio als klassisch. Zehn Jahre lang blieben sie zusammen.
Jarrett sollte zum Weltstar werden. Er stieg zur Galionsfigur des Labels ECM auf, ach was: des ganzen Jazz. Sein Köln Concert eroberte die bürgerlichen Wohnzimmer, und jahrzehntelang füllte dieser Pianist die größten Konzertsäle. Das alles lag 1967 noch in der Zukunft. Aber das Debütalbum kündigt bereits den kommenden Keith Jarrett an: die countryesken Klavierphrasen, den schnoddrigen Rhythmus, die ekstatische Explosivität, die genialische, häufig an Ornette erinnernde Melodik. Die Pianotrio-Besetzung sollte auch lebenslang Jarretts „ästhetisches Klangideal“ bleiben (so Wolfgang Sandner). Schon hier hört man Jarrett leise mitsingen, wenn er seine visionären, fantastischen Läufe modelliert. Über den Opener „Lisbon Stomp“ schreibt der Jazzjournalist Mike Collins: „Das Stück erscheint heute wie die Quintessenz von Jarrett. Auch der Sound des Klaviers ist schon unmissverständlich sein Sound. Es ist, als sei er schon ganz zu Beginn seiner langen Karriere fertig geformt und mit unverkennbarem Tonfall in Erscheinung getreten.“
Life Between The Exit Signs – was will uns der Albumtitel sagen? Meint er die Lebensspanne zwischen Geburt und Tod? Das künstlerische Schaffen, eingebettet zwischen Vergangenheit und Zukunft? Jarretts kleiner Kommentar auf der Albumhülle deutet etwas anderes an: Er spricht von Ausgängen, die in der Musik hörbar werden. Vielleicht: Befreiung und Innerlichkeit, Ekstase und Lyrik, Ornette Coleman und Bill Evans. Der psychedelisch-janusköpfige Keith Jarrett auf dem Albumcover scheint diese Dualität seiner Musik zu reflektieren. Loring Eutemey (der hieß wirklich so!), ruhmreicher Chefdesigner bei der Plattenfirma Atlantic, schuf das Albumcover. Trevor Gendron, genannt „Karma“, adaptierte es mehr als 40 Jahre später (2009) für das Album Evil In The Mirror (so der offizielle Titel) des Hiphop-Künstlers Will C. (Dass „Evil“ palindromisch gespiegelt „Live“ ergibt, wusste auch Miles Davis schon: Sein Album Live-Evil entstand 1970.)
Will C. (voller Name: William Curley) ist ein besonderer Hiphopper. Das verraten schon die liebevollen Details des Albumcovers: die schwarze Mütze, die eine Ähnlichkeit zu Jarretts Haarmatte herstellt, oder das nachgeahmte Logo unten links. Auch die Cover-Rückseite zeigt übrigens Anklänge ans Vorbild. Curleys kleiner Begleittext liest sich seriös und nachdenklich und ist weit entfernt vom Jargon des Hip-Hop. Seinen Januskopf erklärt er mit der Dualität unserer Persönlichkeit: Egoismus vs. Empathie. Er sei unsicher, welche Richtung sein Leben einschlagen werde, schreibt er, aber ironischerweise könne er die Aussicht bewundern, die sich ihm gerade biete. Sämtliche Texte seiner 14 Rap-Songs sind im CD-Booklet abgedruckt, übrigens einem künstlerisch gestalteten, edel verarbeiteten Booklet. Hier nimmt einer seine Musik offenbar ästhetisch ernst. Die Soundteppiche, die Will C. aus Musiksamples für seine Raps zusammengebaut hat, sind durchaus hörenswert. Geschmack- und stimmungsvoll.
Irgendwie war da schon abzusehen, dass der Rap nicht sein musikalischer Zielpunkt bleiben wird. Will C. ist vor allem ein inspirierter Soundgestalter am Computer. Aufmerksamkeit fand vor einigen Jahren seine elektronische Aufbereitung von Klassikern der Beach Boys, mit der er ihnen eine „neue, unerwartete Ästhetik“ geben wollte. Selbst beim Boston Globe war man begeistert: „Ambitioniert und brillant“.
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Will C.: Evil In The Mirror (Brick Records) bei jpc.