Album-Doppel: John Coltrane vs J-Live
Es gibt nicht nur Coverversionen von Songs. „Gecovert“ werden auch Plattenhüllen. Das gecoverte Cover: Ist es witzige Anspielung, respektvolle Verehrung, Parodie – oder hat es einen tieferen Sinn?
Der Tenorsaxofonist John Coltrane veröffentlichte als Bandleader zu Lebzeiten rund 40 Alben. Unter ihnen nahm Blue Train immer eine Sonderstellung ein – das einzige Leader-Album, das Coltrane für das Label Blue Note aufnahm. Jenes Label, das als Inbegriff des Hardbop galt. Jenes Label, bei dem man den Musikern wirklichen Respekt entgegenbrachte und ihnen vor dem Aufnahme-Date mehrere Probentage bezahlte. Letzteres hat sich musikalisch meistens gelohnt – so auch bei Blue Train. Das Sextett agiert konzentriert, ist „zusammen“, spielt mit Energie und Temperament. „Keines seiner Alben swingt effektiver als dieses“, schreibt Colin Larkin.
Den Bassisten und den Schlagzeuger hatte Coltrane von Miles Davis ausgeliehen. Die beiden Bläserkollegen dagegen – beide blutjung, 19 und 23 – holte er von Art Blakeys Jazz Messengers. Die drei Bläser haben zusammen einige Clubdates gespielt, ehe sie für Blue Train ins Aufnahmestudio gingen. Diese eine Platte hatte Coltrane Alfred Lion, dem Chef von Blue Note, in die Hand versprochen. Es gab sogar einen kleinen finanziellen Vorschuss darauf. Danach unterschrieb Coltrane zwar bei Prestige Records, aber sein Versprechen hielt er.
1957 war für ihn ein Jahr der Häutungen. Im Januar flog er aus der Band von Miles Davis – er solle verdammt noch mal endlich vom Heroin wegkommen, meinte der. Ende des Jahres nahm Miles ihn wieder auf – Coltrane war clean. In der Zwischenzeit hatte der Saxofonist ein längeres Engagement mit Thelonious Monk gespielt und viel dazugelernt. Das floss im September auch in die Produktion von Blue Train ein. Es ist ein Album wie ein Sprungbrett – Coltrane ist noch halb an Land, halb schon im freien Wasser. Sein Saxofonspiel verflüssigt sich hier allmählich zu Klangschlieren – die Läufe sind so schnell, dass die Einzeltöne verschwimmen. Sein Spielkonzept bewegt sich in höheren Harmonietönen und strebt der modalen Lösung zu. Die Tür zu den 1960er Jahren steht weit offen. „Coltranes erstes reifes Statement“, meint der Produzent Michael Cuscuna.
Drei der Stücke des Albums sind Jazzstandards geworden. Man kann ihnen jederzeit auf einer Jamsession begegnen. Da ist das charmante „Lazy Bird“, das sich an Tadd Damerons „Lady Bird“ anzulehnen scheint. Dann das ingeniöse „Moment’s Notice“, das, wie der Titel andeutet, erst in letzter Minute entstand, schon im Studio, zwischen Tür und Angel. Und natürlich das Titelstück, „Blue Train“, ganz Blues, ganz „Trane“ (kurz für: Coltrane). Das Thema: ein reduziertes Moll-Riff, beharrlich, ernsthaft, nur widerwillig gehorcht es den Harmoniewechseln. Ganz so auch Coltranes großes Solo: Er zeichnet kaum mehr die Akkorde nach, hält an seinem Grundton fest, sucht seinen Klageton, will eigentlich schon modal spielen. Ganz anders die anderen: wie sie sich in die Changes einfühlen, die Akkordwechsel vorbereiten und elegant vollziehen. Coltrane ist ihnen einen Schritt voraus oder mehrere Schritte. „Es ist eines der schönsten Stücke auf einem der schönsten Alben, die Coltrane in den Fünfzigern aufnahm“, sagt Cuscuna.
Auch das Albumcover von Blue Train ist ein Klassiker. Einer dieser Musiker-Schnappschüsse im Aufnahmestudio, wie sie Francis Wolff, dem gelernten Fotografen und zweiten Mann bei Blue Note, häufig gelungen sind. „Mit dem blau gefärbten, eng geschnittenen Bild von Coltrane – den Finger an der Lippe, den linken Arm nach hinten gestreckt, den Geist in die Musik versenkt – wirkt das Cover ebenso eigensinnig und fern dem Mainstream wie die Musik selbst“, schreibt Coltrane-Kenner Ashley Kahn. Solche klassischen Jazzhüllen waren bekanntlich beliebte Vorbilder für die Hiphop-Cover der 1990er Jahre. Aber bei All Of The Above scheint mehr dahinterzustecken. Die Pose passt einfach zu Jean-Jacques Cadet, genannt „J-Live“. Auch er scheint ein ernsthafter Mann zu sein (wie Coltrane), verantwortungsvoll, pazifistisch, ein Denker. Er mache Musik für ein „ausgewähltes Publikum, dem Intellekt und dezente Beats wichtiger sind als Bombast, Angeberei, Sexismus und Unverfrorenheit“, heißt es auf der Website von All Music. Auch J-Live: definitiv eigensinnig und fern dem Mainstream. Ein Underground-Hiphopper.
Er war Englischlehrer in Brooklyn, er weiß Bescheid über „die Kids“. „Alles, worüber sie Reime machen, sind Waffen und Drogen. Die meisten kennen diese Sachen aber nur aus der Musik.“ J-Live rappt lieber über andere Themen. All Of The Above war sein zweites Album, sein „allererstes zweites Album“, wie er launisch anmerkt. Das erste Album im Vorjahr hatte seine Welt gründlich verändert. Er war seitdem herumgekommen in dieser Welt, war im Begriff, seinen Lehrerjob an den Nagel zu hängen. In „MCee“ feiert er sein Rapper-Sein: In einer Passage hängt er übermütig nur Wörter mit M und C aneinander. Er liebt solche Wortspiele – aber er hat auch Ernsthaftes zu sagen. Zwischen dem ersten und dem zweiten Album: das Trauma von 9/11. „Werden wir uns an die Themen und Probleme, die wir davor hatten, überhaupt noch erinnern?“ J-Live spricht die Sprache der Rapper, er will die Kids erreichen, aber er reimt Ungewohntes. Das Magazin nannte sein Album „intelligent, gebildet, zuversichtlich und sozialbewusst“. Der EmCee, DJ, Producer und Educator ist so etwas wie die personifizierte Ehrenrettung des Hip-Hop.
John Coltrane: Blue Train (Blue Note BST 81577, veröff. 1958)
J-Live: All Of The Above (Coup d’État CDE 0001, veröff. 2002)
John Coltrane – Blue Train auf jpc.de
J-Live – All Of The Above auf discogs.com