Album-Doppel: Colosseum
Es gibt nicht nur Coverversionen von Songs. „Gecovert“ werden auch Plattenhüllen. Das gecoverte Cover: Ist es witzige Anspielung, respektvolle Verehrung, Parodie – oder hat es einen tieferen Sinn?
Dieses Album war fällig. Nach drei Studioplatten, die im Vereinigten Königreich alle in die Top 25 kamen, erwartete man von Colosseum jetzt eine knackige Live-Scheibe. Denn für ihre Konzertauftritte war diese Rock-Jazz-Blues-Band ja berühmt – die Improvisation spielte bei ihr eine besonders große Rolle. Bandleader Jon Hiseman galt als Meister des Schlagzeugsolos, Dick Heckstall-Smith als ein Saxofonist mit großen Jazz-Qualitäten, der Sänger Chris Farlowe als ausgesprochenes Bühnentier. Auch Dave Greenslade (Orgel) und Clem Clempson (Gitarre) waren großartige Solisten. Zudem hatte das Who-Album Live At Leeds gerade erst bewiesen, dass ein gutes, die Konventionen sprengendes Konzertalbum die Charts stürmen kann. Man beschloss also, im Frühjahr 1971 einige Livekonzerte mitzuschneiden.
Nach dem ersten Mitschnitt (in Manchester) war die Band erst einmal mit sich unzufrieden. Doch das lag vor allem daran, dass das Programm praktisch neu war und die Erfahrung, es zu spielen, noch ungewohnt. Beim Publikum jedenfalls spürte man keine Unzufriedenheit. Später beschlossen die Musiker von Colosseum, dass genau dieses Konzert den Großteil des Albums ausmachen sollte. Es wurde eine Doppel-LP mit sechs Stücken von durchschnittlich über elf Minuten Länge. Bis auf „Walking In The Park“, den Opener ihres Debütalbums, war keines der Stücke vorher auf einem der UK-Studioalben zu hören gewesen. Zwei Songs – „Rope Ladder To The Moon“ und „Lost Angeles“ – hatten es immerhin in kurzen Studioversionen auf das US-Album The Grass Is Greener geschafft. In der Live-Fassung jedoch waren sie nun auf die etwa dreifache Länge angewachsen und besaßen einen völlig neuen, entfesselten Charakter.
Die Doppel-LP Live erschien im Juni 1971. Sie war ein Riesenerfolg und schnitt in den Charts sogar besser ab als das vorige Studioalbum der Band. Dieses grandiose Konzertdokument schien die Tür zur weiteren Karriere von Colosseum weit zu öffnen. Schon im August stellte Jon Hiseman ein paar liegengebliebene Studioaufnahmen von Colosseum zu einer Spezial-Kollektion zusammen, um die Begeisterung für die Band weiter am Köcheln zu halten. Doch völlig überraschend kippte dann alles. Farlowe und Clempson, zwei der „neuen“ Mitglieder in der Band, schienen abwandern zu wollen. Und die „alten“ Mitglieder fühlten sich nach drei Jahren fast ununterbrochener Tourneen plötzlich erschöpft. Im November 1971, auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, verkündete Jon Hiseman das Ende der Band Colosseum. Die Spezial-Kollektion (The Collectors Colosseum) wurde zum Nachschlag und Nachruf.
Bis heute ist Colosseums Doppel-LP ein Diamant der Rockgeschichte – eines der besten, eigenständigsten, explosivsten Livealben sämtlicher Genres. Das plötzliche Ende der Band wirkte angesichts dieses Albums irgendwie tragisch und erhöhte noch den Legendenstatus der Platte. Auch das eigenwillige Albumcover wurde geradewegs zur Ikone – man suchte symbolische, erklärende Bedeutungen in der hochspringenden Figur, der roten Schrift, der weißen Wand. Keith MacMillan (Künstlername: Keef) hatte die Albumhülle gestaltet, ein damals hochgeschätzter Coverdesigner. Das Plattencover für Colosseums Valentyne Suite war seine erste Arbeit für das Label Vertigo gewesen. Er verantwortete auch Albumhüllen für Beggars Opera, Black Sabbath, David Bowie, Manfred Mann, Rod Stewart – insgesamt „mehr als 1000 Cover“, wie er behauptete. Später produzierte er Musikvideos.
Doch keine Frage: Eine Band mit der Energie und Originalität von Colosseum verschwindet nie völlig. Sie bleibt im Gedächtnis, sie hinterlässt Spuren, sie glüht nach. Ein paar Jahre später gründete Bandleader Jon Hiseman die Formation Colosseum II, die zeitweise eine der besten Jazzrock-Bands Europas war. Und 23 (!) Jahre nach der Auflösung von Colosseum kam sogar die „klassische“ Besetzung von 1971 wieder zusammen und machte mehrere Alben. Zuletzt war Schlagzeuger Jon Hiseman noch mit JCM unterwegs, quasi dem Rhythmus-Kerntrio von Colosseum – mit Clem Clempson (Gitarre) und Mark Clarke (Bass). Ein weiteres JCM-Album befand sich schon in der Planung, als Jon Hiseman 2018 starb. Da hatte man gerade begonnen, das Trio zur alten Colosseum-Stärke auszubauen. Und weil Clem Clempson Hisemans letzten Willen so verstand, dass man auf diesem Weg weitergehen solle, wurde 2020 tatsächlich Colosseum neu geboren. Traurigerweise ein Colosseum ohne „Mr. Colosseum“.
Clem Clempson, der Gitarrist, hat nun die Zügel in der Hand. „Ich habe mich gewundert, wie viel Spaß es mir macht, die alten Colosseum-Songs wieder zu spielen. Und ich liebe das Saxofon. Manchmal bin ich es leid, in jedem Song ein Gitarrensolo spielen zu müssen – daher ist es schön, ein anderes Soloinstrument zu haben. Das nimmt ein bisschen Druck weg.“ In der neuen Colosseum-Besetzung von 2021 sind immerhin noch drei Mitglieder der 1971er Band: Clempson, Farlowe und Clarke. Für das Cover des Albums Restoration griff man natürlich auf die Platte von vor 50 Jahren zurück – das ikonische, grandiose, tragische Live-Album und das Bildmotiv der hochspringenden Figur. Natürlich war es Clem Clempson, der die Anregung fürs neue Cover gab. Seine Gitarrenriffs und Gitarrensoli sind auch mit Abstand das Stärkste auf Restoration.
Colosseum: Live (rec. 1971, Bronze)
Colosseum: Restoration (rec. 2021, Repertoire Records)
Colosseum – Live (Remastered) auf JPC
Colosseum – Restoration auf JPC