Album-Doppel: Boston – Adam West/The No-Counts Doctrine OF Mayhem
Auf Gitarren ins Weltall
Irgendwann verliert jeder mal die Geduld. Der Sänger stieg aus, weil kein Geld reinkam, und der Schlagzeuger wollte seine Trommeln überhaupt nie mehr anrühren. Seit Jahren hatten sie Demotracks an Plattenfirmen geschickt – ohne jeden Erfolg. Es kamen nur Absagen, teils in beleidigendem Tonfall. Tom Scholz, der Kopf der Band, trat gar nicht mehr auf, er bastelte nur noch an seinen Stücken herum. All sein Geld hatte er in sein kleines Aufnahmestudio gesteckt, unten neben dem Heizungskeller. Die Mehrspur-Maschine hatte er sich selbst gebaut – schließlich war er Absolvent des MIT, ein Technik-Nerd schon als Kind, ein Ingenieur, ein Perfektionist. Das Musizieren betrieb er nur als Hobby, aber er wusste, was er wollte: einen knackigen Gitarrensound und kristallklare Gesangslinien. Die perfekte Rockband. Doch niemand schien sich für seine Songs zu interessieren. Disco-Sound war angesagt. Immer nur Disco-Sound.
Als sie eigentlich schon aufgegeben hatten, meldete sich überraschend eine Plattenfirma. Allerdings waren die Labelleute skeptisch – sie hielten Scholz für einen verrückten Studio-Freak und wollten erst mal die Band live hören. Es gab ein Vorspielen im Proberaum von Aerosmith, einer alten Lagerhalle. Danach wollte das Label, dass die Stücke in einem Profistudio neu aufgenommen würden – Scholz weigerte sich. Er vertraute nur seinem eigenen Tempo, seinen eigenen Arbeitsabläufen. Ein Produzent fand die Lösung: Scholz sollte die Basistracks zu Hause machen – Gitarren, Bass, Keyboards –, und die Band ergänzte im Profistudio an der Westküste den Rest. „Wir verrieten dem Label nicht, dass wir die Bänder dorthin überspielt hatten. Wir sagten nur, wir würden dort mit dem Produzenten daran arbeiten – das war ja nicht gelogen. Sie bekamen dann ein fertiges Tape und dachten: Mann, sind die Jungs schnell!“
Die Band erhielt auch einen neuen Namen: Boston – nach ihrer Heimatstadt. Im Sommer 1976 erschien dann das Album. Es wurde eine der erfolgreichsten Debütplatten der Musikgeschichte und allein in den USA (bis heute) 17 Mal mit Platin ausgezeichnet. Alle drei Single-Auskopplungen kamen in die US-Top-40, allen voran die Ballade „More Than A Feeling“. Schon nach wenigen Wochen kündigte Scholz seinen Job als Ingenieur. Doch ein Perfektionist und Studiobastler blieb er immer – volle zwei Jahre brauchte er fürs zweite Album, dann gründete er erst einmal eine Firma für Studio- und Instrumententechnik, entwickelte das Gitarren-Effektgerät „Rockman“. Weil das dritte Album nicht rechtzeitig fertig wurde, verklagte die Plattenfirma den Studio-Nerd auf 60 Millionen Dollar. „Das Musikbusiness wäre eine gute Sache, wenn es nicht von Drogensüchtigen und Geschäftsleuten dominiert würde“, sagte Scholz.
Der satte Gitarrensound lag ihm am Herzen. Der satte Gitarrensound war das Erkennungszeichen seiner Band. Deshalb hatte sich Scholz eine Gitarre aufs Albumcover gewünscht, eine Gitarre als Raumschiff zur Flucht in die Fantasie – gemäß den Songlyrics von „More Than A Feeling“: „I closed my eyes and I slipped away“. Die Grafikerin Paula Scher, die damals rund 150 Albumcover jährlich gestaltete, hielt das Ganze erst für einen „idiotischen Einfall“ – aber sie machte das Beste daraus. Wer genau hinsieht, erkennt an der Unterseite des Raumschiffs das Schallloch der Gitarre und – perspektivisch verkürzt – den Gitarrenhals bis zu den Wirbeln. Oben steckt die Stadt Boston unter einer Glaskuppel. Auch andere Städte scheinen mithilfe von Gitarren-Raumschiffen von der explodierenden Erde zu fliehen. „Es war und ist immer noch eine mittelmäßige Arbeit“, urteilt die Grafikerin streng. Doch das Boston-Raumschiff wurde zur Ikone. Auf allen folgenden Alben der Band kehrte es als Motiv wieder – und ebenso bei den Bühnenshows.
Der gitarrenstarke, aber melodisch sanfte Sound von Boston eröffnete damals eine neue Rockära. Man sprach von „Arena Rock“ und „Corporate Rock“ oder – mit Bezug auf das Alter der Hörerschaft – „Dad Rock“. Die Zielgruppe waren nicht tanzwütige Teens und Twens, sondern reife Erwachsene. Die Musik musste nicht in der Disco funktionieren, sondern auf Festivals und im Albumformat. Auch „Adult-oriented Rock“ hieß das im Fachsprech oder „Album-oriented Rock“ – beides wurde abgekürzt zu „AOR“. Die Band Boston war der Inbegriff des AOR, das Boston-Raumschiff wurde zu seinem Bildsymbol.
Darauf beziehen sich Titel und Cover des Albums Trailer Oriented Rock. Nicht die Stadt Boston thront hier auf dem Raumschiff, sondern der Airstream-Trailer, der klassische amerikanische Wohnwagen. Uns erwartet nicht die massentaugliche Rockmusik fürs Stadion und für den bürgerlichen Dad. Das hier ist vielmehr der Sound des einfachen Mannes ohne festes Zuhause: hart, laut, gitarrenbetont, schnell und schmutzig. Es handelt sich um eine Koproduktion zweier Bands. Adam West (benannt nach dem Batman-Darsteller) waren eine garagige Stoner-Rock-Band aus Washington D.C., bei deren Sänger Jake Starr auch punkige und rock’n’rollige Töne zu hören sind. Nicht weniger stonerrockig klingen The No-Counts Doctrine Of Mayhem (etwa: „Irrelevante Chaostheorie“). Diese Band kam aus Portugal und ließ sich vom harten Sound von AC/DC, Motörhead und Iron Maiden inspirieren. Beide Formationen liefern je fünf Stücke ab, darunter ein Stones-Cover. Geile Gitarrendröhnung für den Trailer.
Boston: Boston (Epic/Legacy 69699863222)
Adam West/The No-Counts Doctrine Of Mayhem: Trailer Oriented Rock (Sleazey Records ss04)