ABBA – Die unendliche Band
Vier Schweden, acht Jahre, dreihundertachtzig Millionen. Die Eckdaten einer Karriere, die vor vierzig Jahren begann und immer noch nicht beendet ist …
Die simple Zahlenfolge 4 − 8 − 380.000.000 liefert bereits grundlegende Infos über ABBA, den bis heute größten und einflussreichsten musikalischen Exportartikel aus Skandinavien: Vier junge Schweden musizieren über acht Jahre zusammen und können die Songperlen, die sie in dieser Zeit geschaffen haben, bis heute etwa dreihundertachtzig Millionen Mal auf Tonträger verkaufen.
Der 6. April 1974 – ein geschichtsträchtiger Tag für die Popmusik. An jenem Samstagabend gewinnt ABBA im englischen Brighton den 19. Grand Prix Eurovision de la Chanson. So weit wäre es gar nicht gekommen, hätte es nicht jenen schicksalhaften Moment auf einer schwedischen Schotterpiste an diesem lauen Sommerabend 1966 gegeben. Auf einem Hügel außerhalb der kleinen Stadt Falköping steigt ein Musikfestival mit den zwei bekanntesten schwedischen Bands: die Hootenanny Singers mit Björn Ulvaeus und die Hep Stars mit Benny Andersson. Der Schotterweg hinauf zum Festivalhügel ist so schmal, dass zwei Autos kaum aneinander vorbeifahren können. Die Hep Stars machen sich gerade auf den Heimweg, als die Hootenanny Singers im vollgepackten Volvo-Kombi den Schotterweg hinaufkriechen. Man begegnet sich, erkennt sich in den Autos und stoppt für einen Smalltalk – der erste persönliche Kontakt von Björn und Benny. Bis dahin hatte man sich lediglich dem Namen nach gekannt. Sie verstehen sich, begießen den Abend nach dem Gig noch ordentlich und ein paar Wochen später steht der erste, gemeinsam komponierte Song: „Isn’t It Easy To Say“. Beide sind vorerst mit ihren eigenen Bands gut beschäftigt, so dass noch ein paar Jahre ins Land gehen, ehe sich das neben den Beatles wohl wichtigste Quartett der Popmusik endgültig formt.
Talente mit unmöglichen Bandnamen
Das waren noch Zeiten, als bei Talent-Wettbewerben ebensolche entdeckt wurden … So geschehen bei Björn: Der Gitarrenvirus, der ihn mit 13 befällt, bringt ihn auf den üblichen Musikerweg: erste Akkorde auf der Akustischen, erste Fortschritte, mit 16 die erste brauchbare Band, die „West Bay Singers“. Die Truppe gewinnt einen lokalen Talentwettbewerb, der spätere ABBA-Manager Stikkan „Stig“ Andersson liest darüber in einem Zeitungsartikel und nimmt die Bande unter seine Fittiche. Er setzt durch, dass die Jungs ab sofort auf Schwedisch singen und sich in „The Hootenanny Singers“ umbenennen – der schlechteste Bandnamen aller Zeiten, wie Björn Ulvaeus später einmal anmerken wird.
Auch Benny Andersson, der bärtige Pianist, erlebt eine glückliche und musikalische Kindheit. Vater und Opa spielen ausgiebig Akkordeon, mit sechs bekommt er sein eigenes, mit zehn wird ein Klavier daraus. Gleich die ersten zwei Stücke, die er 1964 als neuer, gerade mal 18-jähriger Pianist für die Hep Stars schreibt, landen ganz vorne in den Charts. „Ich dachte, wenn ich einen Song komponieren kann, kann ich auch einen zweiten oder dritten komponieren.“ Zu diesem Zeitpunkt ahnt er natürlich noch nicht, dass er wenige Jahre später zusammen mit Björn Ulvaeus ein Songwriterduo bilden wird, das auf Augenhöhe mit Lennon/McCartney in die Musikgeschichte eingeht.
17 Jahr, blondes Haar
Ein weiterer, nicht minder wichtiger Schlüsselmoment ist die Entdeckung von Agnetha Fältskog durch den Talentsucher Karl-Gerhard Lundkvist. Die blonde Agnetha ist gerade mal 17 Jahre jung, als Lundkvist 1967 ihr selbstkomponiertes Lied „Jag Var Så Kär“ („Ich war so verliebt“) veröffentlicht. Schon im Januar 1968 steigt dieses Lied in der schwedischen Hitparade auf Nummer 1. Von da an ist sie in Schweden, und ab 1974 auch im Rest der Welt, eine Berühmtheit. Sie gilt als die Stimme von ABBA, hat sie doch bei den allermeisten Songs die Leadstimme inne.
Das Leben der rothaarigen Anni-Frid Lyngstad verläuft bis in die Jugendjahre nicht ganz so sonnig und unbehelligt, wie das der anderen drei künftigen ABBA-Mitglieder. Es beginnt bereits bei der Geburt 1945: Sie ist das Ergebnis einer Affäre ihrer erst 18-jährigen Mutter mit einem deutschen Soldaten. Der Vater macht sich aus dem Staub, die Mutter stirbt, als Anni-Frid kaum zwei Jahre alt ist. Die Kleine wächst bei der Oma auf, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Anni-Frid singt ab ihrem dreizehnten Lebensjahr in Tanzbands und gewinnt 1967 einen Talentwettbewerb. Ihren Siegertitel „En Ledig Dag“ singt sie tags darauf im damals einzigen Fernsehprogramm Schwedens in einer Show zur besten Sendezeit – und wird damit sprichwörtlich über Nacht zur Berühmtheit.
Auf einer Tour lernt sie 1968 in einer Bar Benny Andersson kennen. Von nun an will sie, dass der neue Mann in ihrem Leben auch Songs für sie schreibt und ihre Platten produziert.
Die passende Frau zur Stimme
Björn verliebt sich, wie er selbst sagt, sofort in die Stimme von Agnetha, als er 1968 ihren Nummer-1-Hit „Jag Var Så Kär“ hört. Als er sie dann ein Jahr später bei einer Fernsehaufzeichnung auch noch in natura kennenlernt, ist es um ihn geschehen. Sie ist genau die Frau, die er sich zu dieser Stimme vorgestellt hatte.
Die vier kennen sich nun, doch Björn und Benny schreiben für andere Künstler, jeder verfolgt seine Soloprojekte, und an ein gemeinsames Musizieren denkt noch keiner von ihnen. Das ändert sich 1970 im Urlaub auf Zypern. In geselliger Runde stellen sie fest, dass es recht gut klingt und auch gut ankommt, wenn die zwei Jungs zur Gitarre greifen und die beiden Damen dazu singen – gewissermaßen das erste Konzert von ABBA.
Noch 1970 treten sie diverse Male unter dem doppeldeutigen Namen „Festfolket“ auf; das heißt „verlobte Paare“ aber auch „feiernde Leute“, und beides trifft hier zu. Nur Erfolg will sich weder damit, noch mit dem selbstproduzierten Album Lycka einstellen. Selbst auf der ersten „echten“ ABBA-Single „People Need Love“ von 1972 stehen noch die ausgeschriebenen Namen Björn & Benny, Agnetha & Anni-Frid auf dem Cover. Band-Manager Stig Andersson befindet, dass es einen deutlich griffigeren Namen brauche, zumal das Quartett eine Teilnahme am Sanges-Grand Prix anstrebte. Die vier Anfangsbuchstaben sind die Lösung.
Der erste Grand-Prix-Anlauf 1973 endet mit dem Song „Ring, Ring“ zwar schon im schwedischen Vorentscheid, doch die zugehörige LP verkauft sich in Schweden so gut, dass es einen neuen Versuch im Folgejahr gibt. Der Rest ist Geschichte.
Hits als Meterware
Mit „Waterloo“, einer für den Wettbewerb ungewöhnlich flotten, rockigen Nummer, startet das Quartett im April 1974 eine unvergleichliche Weltkarriere. Sie dominieren mit erstklassig produzierter Dur-Glückseligkeit die Charts, soweit das Auge – pardon: das Ohr – reicht. Auf acht offiziellen Alben zeigen die Schweden, wie Popmusik geht, liefern Hits als Meterware: „SOS“, „Mamma Mia“, „Fernando“, „Voulez Vous“, „Dancing Queen“, „Gimme, Gimme, Gimme!“, „Does Your Mother Know“ und etliche Chartbreaker mehr. Die vier Schweden scheinen das Monopol für perfekte Melodien und Harmonien zu haben. Und die Welt will ABBA. Ganz und gar. ABBA aber nicht unbedingt die Welt. Zumindest nicht in dieser mörderischen Intensität. Während die Hitmaschine weiterhin auf Hochtouren läuft, beginnt sich der Produktions- und Tourstress auf das Privatleben auszuwirken. Björn und Agnetha trennen sich bereits 1978, als die Band es sich bequem auf dem Pop-Olymp eingerichtet hat. Die beiden Jungs leiden unter Schreibblockaden und ziehen sich für Wochen auf die Bahamas zurück, um die Kreativität wieder anzukurbeln. Einzig Frida findet weiterhin Gefallen daran, „on stage“ zu sein. Die Jungs wollen lieber Songs schreiben, und für die zurückhaltende Agnetha, die sich lieber um ihre Kinder kümmern will, sind Tourneen ohnehin ein einziger Höllenritt. Sie fühlt sich nur beim Singen im Studio wirklich wohl.
Bezeichnend dafür, dass nicht nur die vier Musiker, sondern auch die vier Menschen, die ABBA bildeten, den Zenith überschritten haben, ist schließlich der Nervenzusammenbruch von Agnetha. Ein Flugzeug war in ein Luftloch geraten und musste auch noch wegen Treibstoffmangel notlanden. Das ist zu viel für die sowieso flugängstliche Agnetha. Sie sperrt sich in ihr Hotelzimmer ein und weigert sich, es wieder zu verlassen. Ein Auftritt in Washington muss abgesagt werden. Es ist Ende 1979 und Agnetha resümiert, dass ihr die Karriere gerade unglaublich wenig bedeute; viel wichtiger sei die anstehende Einschulung ihrer Tochter.
Keine Auflösung, nur eine Pause
Auf Gute-Laune-Pop folgt Nachdenklichkeit. Das Album Super Trouper von 1980 läutet das letzte Kapitel der Bandgeschichte ein, unter anderem mit „The Winner Takes It All“, ein knapp fünfminütiges Meisterwerk voll emotionalem Tiefgang. Kein hochglanzpoliertes Pop-Kalkül, Agnethas gebrochenes Herz ist deutlich hör- und spürbar – der Soundtrack zur Trennung von Björn. Mit The Visitors legt ABBA 1981 noch ein achtes und letztes Album nach. Auch hier herrschen eher melancholische Töne. Songs wie „One Of Us“ oder „Head Over Heels“ wären in ihren glückseligen Tagen in den 70ern so nicht denkbar gewesen.
1982 gibt noch einen allerletzten Versuch, gemeinsam kreativ zu werden. Bei den Studiosessions im Frühjahr des Jahres kommen aber lediglich drei Songs zustande, danach wird per Presseerklärung den Spekulationen der Medien entgegengetreten: „Es besteht keine Absicht, die Gruppe aufzulösen.“ Ende des Jahres verkünden die vier Schweden dann in einem TV-Interview eine Pause – die bis heute anhält! ABBA, die unendliche Band. Als ihnen im Jahr 2000 die aberwitzige Summe von einer Milliarde (!) Dollar für eine erneute Tournee geboten wird, lehnten sie ab. Nicht, dass sie solche Peanuts nötig hätten, nein, sie wollten bei den Fans in angenehmer Erinnerung bleiben.
Mit gerade mal sieben Jahren bekomme ich meine erste Langspielplatte: The Best Of ABBA. Als Dreikäsehoch finde ich nicht nur die Musik toll, sondern auch die aus heutiger Sicht unglaublich albernen Glitzerklamotten. Ich dachte wohl, wer sich so anzieht, macht bestimmt auch coole Musik. Über die Jahre hinweg sind im persönlichen musikalischen Geschmacksraster mannigfaltige Interpreten gekommen und gegangen – eines bin ich allerdings seit diesem denkwürdigen Tag im Jahre 1976 geblieben: ABBA-Fan. Bis heute. So bleibt mir nur der Titel eines weiteren großen Hits zu zitieren: „Thank You For The Music“.