Ein Wurmlochoch im Raum-Zeit-Kontinuum
Illustration: Ralf Wolff-Boenisch
Moin Moin, grüß Gott, servus und grüezi mitenand, liebe Leser, herzlich willkommen auf der letzten Seite. Ein Wort in eigener Sache: Das Konzept von FIDELITY wurde grundlegend verändert. Resultat einer Redaktionsrevolution, die so subtil von mir angezettelt und subversiv durchgeführt wurde, dass sie niemand mitbekommen hat. Ihnen, liebe Leser, will ich es verraten. Nur bitte nicht der Chefredaktion erzählen, die entzieht mir sonst die eben erst erteilte Berechtigung zur Betextung der letzten Seite, und das wäre schade, wo ich’s mir doch gerade erst gemütlich mache hier.
Also, die Begrüßung der Leser erstreckt sich nicht mehr nur über eine Seite ganz vorne, sie wurde auf mehr als zweihundert Seiten gestreckt. Alle Gerätetests, Selbstversuche in Sachen Highend-Shopping und Plattenlobhudeleien gehören nun zum einleitenden Editorial. Der eigentliche Inhalt des Heftes, der steht genau hier auf dieser Seite. Damit ich Sie, liebe Leser, mit zumindest einem relevanten Gedanken ins Bett schicken kann. Dieser muss eben klar abgegrenzt werden vom doch eher leichten Unterhaltungsprogramm auf den vorangehenden Seiten. An dieser Stelle möchte ich übrigens schnell noch all jene FIDELITY-Leser begrüßen, die das Heft aus nonkonformistischer Gewohnheit von hinten nach vorne durchblättern: Sie sind hier genau richtig.
Zum Gedanken des Tages, der aus Platzgründen heute in kompakter Form niedergeschrieben werden muss. (Wer will, mag noch schnell zur Hausbar eilen und sich einen Beaujolais-Mojito mixen. Aber schnell!) Also, heute morgen im Auto. Dudelsender mit größtmöglicher Irrelevanz. „Careless Whisper“ von George Michael. Normalerweise zappe ich das weg, bevor der Saxofonist überhaupt zwei Töne gespielt hat. Nicht so heute. Plötzlich tauchten Bilder auf. Bilder aus vergangenen Tagen. Mein junges Ich, am kanariengelb lackierten Kinderschreibtisch, beim Ablösen von Briefmarken von alten Umschlägen und vergilbten Postkarten im lauwarmen Wasserbad, beim Trocknen und Pressen derselben und beim Sortieren hinter Einsteckstreifen aus Pergamentpapier, natürlich mit Briefmarkensortierpinzette.
Daneben das Radio, aus dem unaufhörlich Hits der achtziger Jahre ins Kinderzimmer drangen, kein Wunder, es waren ja die achtziger Jahre. Immer auch: „Careless Whisper“. Das Ziehen in der Brust, weil Ute aus der Parallelklasse mit Thorsten ging und nicht mit mir. Das Zweifeln am Selbst, weil man sich im Billard Village am Wochenende nicht traute, das Mädchen mit den braunen Augen anzusprechen … Ein Wurmloch der Gefühle im Raum-Zeit-Kontinuum, heute morgen im Auto, ausgelöst durch eine der schlimmsten Tonaneinanderreihungen der Musikgeschichte. Das Herz aber, es wurde weich, ich lächelte im Stau wildfremden Menschen zu. Dann: „I’ve Had The Time of My Life“. Schrecklich. Radio aus.
PS: Unnützes Wissen zum Angeben, Teil 1: Das Saxofon bei „Careless Whisper“ spielte übrigens der heute 73-jährige britische Jazzmusiker Steve Gregory, der sein Instrument bereits 1969 für „Honky Tonk Women“ von den Rolling Stones zum Einsatz bringen durfte – und der lange Jahre zur Tourband des jamaikanischen Dub-Poeten Linton Kwesi Johnson gehörte. Ein Mann auf Abwegen.