Longtrack: Uriah Heep – Salisbury
Zum ProgRock gehören Tempowechsel, umfangreiche Instrumentalteile, überraschende Instrumente und weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack.
Uriah Heep, Salisbury, 1971: Die Kritiker haben diese Band nie gemocht – sie war ihnen zu klischeehaft und zu primitiv. Einer der bekanntesten Songs von Uriah Heep verwendet in der Tat gerade mal zwei Akkorde, sein Refrain hat nicht einmal einen Text, und die Titelworte „Lady In Black“ kommen im ganzen Song nicht vor. Selbst der reguläre Sänger der Band weigerte sich damals, so ein Stück zu singen – der Keyboarder sprang ein. Dass „Lady In Black“ die erfolgreichste Nummer der Band wurde (Nr. 5 in den deutschen Charts), muss David Byron, die eigentliche „Stimme“ von Uriah Heep, ziemlich gefuchst haben.
Außer „Lady In Black“ findet sich auf demselben Album aber auch das mit Abstand ambitionierteste Stück in der Geschichte von Uriah Heep. „Salisbury“, der Titelsong des Albums, ist über 16 Minuten lang und wurde zusammen mit einem mehr als 20-köpfigen Bläserensemble (Blech und Holz) eingespielt. Ein äußerst mutiges Unternehmen, denn Uriah Heep waren 1971 eine blutige Newcomer-Band, weit weg von Erfolg und Anerkennung. Vermutlich war das Ganze mehr eine Bier- oder Schnapsidee, denn die Band verbrachte damals viel Zeit im Londoner „Fox & Hounds Pub“. Immerhin konnte man für die Bläser-Arrangements einen ausgebildeten Arrangeur gewinnen, John Fiddy – er machte später als Tausendsassa der Gebrauchsmusik Karriere.
Den Kern des 16-Minuten-Longtracks bildet, wenig überraschend, eine Rockballade – oder eigentlich sind es zwei. Die eine beginnt mit den Worten „Somewhere In Your Eyes“ (ab 3:11, Reprise ab 14:34), die andere hat den Refrain „Alone Again“ (ab 9:25). Wie es sich für eine Rocknummer von 1971 gehört, bietet das Stück außerdem ein exquisites Orgelsolo (ab 5:42) und ein schmutziges (übrigens gestückeltes) Gitarrensolo (ab 11:24). Daneben aber – und das macht „Salisbury“ einmalig – ist das Stück eine große Bläser-Fantasie, bei der viele Einzelfarben wie Bassklarinette, Flöte, Englischhorn oder gestopfte Trompete in den Vordergrund treten. Die Bläserbehandlung hier hat etwas ganz Eigenes und erinnert nur sehr entfernt einmal an Barock oder Bigband. Besonders die Bläserparts, die den Gesang begleiten, sind absolut originell – der Keyboarder Ken Hensley nannte sie „spaced-out“.
Diese Verschmelzung von Rockband und Bläsern verleiht „Salisbury“ eine seltsam berührende Stimmung – und das schon gleich zu Beginn, als sich Blech, Orgel und Chor zusammentun. Das „angejazzte“ Orgel-plus-Bläser-Solo (ab 5:42) gehört sogar zu den bemerkenswertesten Passagen im ProgRock der siebziger Jahre – sie endet mit dem Übergang in den zweiten „Song“ (8:04). Welchen Bezug Musik und Songtext zum Stück- und Albumtitel „Salisbury“ haben, bleibt aber völlig schleierhaft. Auch dieses Rätsel trägt zur besonderen Poesie dieses Longtracks bei.
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