Lyric Ti 100 Mk II – Rollende Röhren
Der Ti 100 Mk II aus dem Hause Lyric Audio bietet Röhrentechnik zum Anfassen – im wahrsten Sinne des Wortes: Wer Hand anlegt, kann lyrische Klänge ebenso genießen wie harten Rock’n’Roll.
Fotografie: Ingo Schulz
Röhrenverstärker gelten bekanntermaßen als etwas zickig und bei weitem nicht so idiotensicher wie die transistorierten Kollegen ihrer Zunft: Sie verzeihen es üblicherweise nicht, wenn sie ohne Last – also angeschlossene Lautsprecher – laufen, auch sollte die angehängte Impedanz zum Ausgangsübertrager bzw. dessen jeweiligen Abgriffen passen. Dann altern diese Röhren frecherweise im Betrieb auch noch wesentlich stärker und schneller als Transistoren – und wenn nicht gerade eine Autobias-Schaltung an Bord ist, muss beim Röhrentausch auch noch der Ruhestrom von Hand neu eingestellt werden. Von der Hitzeentwicklung und der potenziell nicht ungefährlichen Hochspannung ganz zu schweigen. Und doch ist die Röhre nicht totzukriegen. Warum, das erschließt sich schnell, wenn man einmal dem euphonischen Röhrensound verfallen ist – und noch schneller, wenn man einen Amp daheim hat, der so servicefreundlich ist und nachgerade zum Experimentieren aufruft wie der Ti 100 Mk II.
Der Ti 100 Mk II ist die Weiterentwicklung des Ti 100, der mittlerweile schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat. Gegenüber dem Vorgängermodell hat die Mark-zwo-Version satte vier Kilogramm „Übergewicht“ – kein Wunder, denn sowohl der Netztrafo als auch die Ausgangsübertrager wurden optimiert. Außerdem bekam das Netzteil neue Kondensatoren mit höherer Spannungsfestigkeit spendiert. All dies soll – so formuliert es Lyric-Audio-Geschäftsführer Thomas Noll – größere Leistungsreserven, gesteigertes Impulsverhalten, feinere Auflösung und größeren Detailreichtum mit sich bringen.
Im Grunde handelt es sich um ein altbewährtes Konzept, nämlich einen Single-ended-Class-A-Verstärker. Fünf Hochpegeleingänge stehen zur Wahl. Die Schaltung – übrigens zum überwiegenden Teil in freier Verdrahtung und made in Germany ausgeführt – ist puristisch, was die Herren von Lyric Audio allerdings nicht davon abhielt, das Maximale aus dem Konzept des Eintakters herausholen zu wollen. Das zeigt sich schon anhand des Lebendgewichts von über 30 Kilogramm, welches bereits das Herauswuchten des Amps aus dem Karton zu einer echten Aufgabe macht. Was für ein Brocken! Und was für eine Materialschlacht! Das Grundchassis besteht aus massivem Stahl, die Außenverkleidung aus Aluminium. Die Eingangsstufe ist – gewissermaßen „fix“ – mit zwei 6SL7-Doppeltrioden bestückt, während die Sockel für die Leistungsröhren verschiedene Typen aufnehmen können: von der guten alten EL34/KT77, die eine Endleistung von zarten sieben Watt pro Kanal abliefert, über die KT88 (acht Watt pro Kanal) und die KT120 (18 Watt) bis zum dicken Brummer KT150, der das Leistungsmaximum von 20 Watt pro Kanal raushaut. Wer nicht weiß, welche Röhre für den Heimbedarf bzw. die vorhandenen Lautsprecher die geeignete ist, der kann sich zuvor telefonisch beraten lassen: Frank Noll von Lyric hilft gerne und pragmatisch-sachkundig weiter.
Erfreulicherweise ist das „Tuberolling“ – also der Austausch der Endröhren – auch für den Anfänger sehr leicht zu bewerkstelligen: Alte Röhre raus, neue Röhre rein – und dann nutzt man einfach das fest verbaute Anzeigeinstrument, um den Ruhestrom für beide Röhren abzugleichen; zwei Drehschalter an der Gehäuseoberseite helfen dabei. Der linke wird in die Stellung „Bias“ gebracht, mit dem rechten wird bestimmt, welchen Ruhestrom das mittig eingelassene Instrument zeigt – den der rechten oder linken Röhre. Nun muss nur noch mit einem Schraubendreher das vor der jeweiligen Röhre positionierte Trimmpoti so justiert werden, dass der korrekte Ruhestrom – die entsprechenden Werte für die unterschiedlichen Röhren sind in der mitgelieferten Bedienungsanleitung gelistet – angezeigt wird. Das erledigen auch blutige Anfänger in weniger als einer Minute.
Neben dem Röhrentausch hat der Ti 100 Mk II noch mehr Optionen zur Klanganpassung zu bieten. Bekanntermaßen scheiden sich ja beim Thema Gegenkopplung die Geister: Dem einen kann sie gar nicht groß genug sein, der andere bezeichnet dergleichen als Nepp und Klangbarriere, ja „gefährlichen Eingriff in den Elektronenverkehr“. „Erlaubt ist, was gefällt“, so kontert man bei Lyric und stellt einen weiteren Drehschalter an der Geräterückseite zur Verfügung, der die Einstellung der Gegenkopplung in drei Schritten gestattet. Auf der ersten Schaltstufe steht die höchste Gegenkopplung zur Verfügung, die beiden folgenden Schaltstufen verringern sie um jeweils ein Dezibel. Bringt das was? Ja, das tut es.
Aber von vorne: Ich habe selten so einen wandlungsfähigen Röhrenverstärker gehört. Und das macht die klangliche Verortung dieses Geräts gar nicht so leicht, denn der Klang des Ti 100 Mk II wird zum einen recht maßgeblich durch die Wahl der Endstufenröhren geprägt, zum anderen über die Wahl der Gegenkopplung noch mal feinabgeschmeckt. Selbst mit der pausbäckigen, aber leistungsschwachen KT88 entfesselt dieses Gerät bereits eine unbändige Spielfreude – allen Unkenrufen zum Trotz sogar an wirkungsgradschwachen Lautsprechern wie meiner Harbeth 30.2, die mit einem Wirkungsgrad von 85 Dezibel nun nicht gerade als „Megafon“ durchgehen. Geradezu frappierend, was hier aus acht Stereowatt herausgeholt werden kann. Und erst recht frappierend ist es, eine Einspielung zu hören, die aus der Blütezeit der Röhrentechnik stammt, nämlich die remasterte Fassung von Jimmy Smiths Jazz Profile, deren Originalaufnahmen zwischen 1956 und 1963 entstanden. Was für eine – höhö – Verve! Da hängt die Kinnlade nach wenigen Takten unten. Ganz gleich, ob Jimmy Smiths Hammondorgel in tiefen Lagen raunzt, röhrt und magmatisch blubbert – oder ob sie in den Soli „obenrum“ auch mal aggressiv am Trommelfell knabbert. Ganz gleich, ob das Schlagzeug nur ein feines Ridebecken-Dingeling oder auch saftige Kantenschläge und massive Bassdrum-Knaller liefert: Der Rezensent sitzt mächtig beeindruckt im Sessel und wähnt sich in einem vollgerauchten Jazzclub, in dem der Schweiß von der Decke tropft. Wie beschreibt man so etwas? Nun, es ist schlicht und einfach „lebendig“, was hier abgeliefert wird. Mitreißend, packend, glücklich machend.
Doch da geht noch mehr: Man gönne dem Ti 100 Mk II als Spielpartner einen etwas weniger watthungrigen Lautsprecher als die Kompaktmonitore mit Bändchenhochtöner Phonologue C Rondo von Quadral und als Software ein wenig Kammermusik bester Provenienz – und schon sind wir mitten im Röhrenklischee: Der Raum wirkt buchstäblich begehbar, die Musik löst sich völlig von den Lautsprechern und steht flirrend und funkelnd im Raum. Und man meint fast, die Präsenz der Musiker im Hörraum zu spüren. Spooky, aber schön.
Umbaupause! Wir lassen den Amp erkalten, zupfen vorsichtig die beiden KT88 heraus, ersetzen sie durch ein Pärchen KT120 aus dem Hause Tung-Sol und drehen den Bias-Strom für beide Röhren auf 100 mA hoch. Da tut sich einiges: Tonal verändert sich die Handschrift des Amps zwar nur ein Stück weit, aber Straffheit, Dynamik und Durchzugskraft – insbesondere im Bassbereich – legen gehörig zu. Das macht Lust auf Experimente: Warum nicht mal ein wenig gut abgehangenen Drum’n’Bass? Schnell die CD DJ Kicks von Kruder & Dorfmeister herausgekramt und gestaunt: Was hier an substanziellen und potenten Bässen gereicht wird, aber auch was für eine Antrittsgeschwindigkeit in allen Lagen – und dann noch dieser unnachahmliche Hochton, der nichts verschweigt, aber eben auch zu keiner Zeit metallisch oder allzu gleißend wird! Ja, selbst elektronische Musik der Neuzeit kann über eine Röhre verführerisch und mitreißend klingen.
Der aufmerksame Leser wird anmerken, dass ich ihm noch sachdienliche Klanghinweise auf die variable Gegenkopplung schulde – bitteschön: Entgegen meinen Erwartungen wirkten sich die unterschiedlichen Schalterstellungen weniger auf Dynamik oder Straffheit im Bassbereich aus. „Weniger“ bedeutet an dieser Stelle nicht „gar nicht“, aber der eigentliche Effekt manifestierte sich für mich im Bereich der Bühnenabbildung, die sich bei der geringstmöglichen Gegenkopplung – also Schalterstellung „3“ gewissermaßen – am schönsten, tiefsten und kohärentesten zeigte. Ja, der Sound verlor dabei „untenrum“ ein kleines Stück weit an Kontur und Lastwechselgeschwindigkeit, das nahm ich aber gerne in Kauf, weil das Gesamtbild insgesamt noch euphonischer, runder, aber auch klarer wurde.
Mein Fazit: Wenn Sie sich bisher aus den eingangs erwähnten Gründen um die Anschaffung eines Röhrenverstärkers gedrückt haben sollten, dann dürfte der Ti 100 Mk II Ihr Weltbild nachhaltig ins Wanken bringen. Denn Sie erhalten zu einem angemessenen Preis ein Gerät, das nicht nur in Sachen Materialqualität für die Ewigkeit gebaut scheint, sondern auch klanglich enorm flexibel ist. Durch den Einsatz unterschiedlicher Röhren und Gegenkopplungsszenarieren eröffnet sich dem Besitzer dieses Verstärkers eine Klangvielfalt, die sich mit herkömmlichen Transistorierten so nicht erzielen lässt. Und das alles auch noch ausgesprochen servicefreundlich. Herz, was willst du mehr?
Vollverstärker Lyric Ti 100 Mk II
Eingänge: 5 x Hochpegel Cinch
Ausgänge: je 1 Paar Lautsprecherklemmen 4 und 8 Ω, Vorstufenausgang (Cinch) und/oder Tape Out (Cinch) gegen Aufpreis
Gesamtleistung: 2 x 7 W (EL34/KT77), 2 x 8 W (KT88), 2 x 18 W (KT120), 2 x 20 W (KT150)
Frequenzgang: 15 Hz bis 30 kHz
Klirrfaktor: < 3 %
Dämpfungsfaktor: einstellbar
Maße (H/B/T): 32,3/44/38,2 cm
Gewicht: 30,1 kg
Garantiezeit: 2 Jahre
Preis: ab 5680 € (mit KT120)