Amerikaner können nur groß, schwer und stark. Was Transistorverstärker betrifft: Stimmt! Umso reizvoller, wenn einer, der für Großtaten berühmt ist, sich am Kleinen versucht.
In der Tiefe seines musikliebenden Herzens ist Nelson Pass ein Minimalist. Schwer zu glauben angesichts des Schwermetalls, das unter seiner Federführung seit bald 40 Jahren auf den Markt gelangt. Pass-Verstärker sind das, was gemeinhin als „Boliden“ bezeichnet wird: Kraftwerke uramerikanischer Art, gerne im stromverschwenderischen Class-A-Modus operierend, die Funktionsgruppen in Gehäuse aufgetrennt, wie sie eine Person alleine nur unter orthopädischer Aufsicht von der Stelle zu bewegen vermag. Love it or leave it.
Doch der Mann,
der genauso aussieht, wie sein Spitzname „Papa Pass“ es nahelegt – weiße Haarmähne, weißer Vollbart, Schalk in den Augen –, dieses Urgestein der Audioszene kann auch anders. Wie, das erfährt der Besucher seiner beiden „nebenberuflichen“ Webseiten www.passdiy.com und www.firstwatt.com. Dort steht das Minimieren im Fokus, abseits üblicher kommerzieller Pfade und unter sehr speziellen Vorgaben. Zum Beispiel: „Alle Kondensatoren raus aus der Schaltung“ oder „so wenige Verstärkungsstufen wie möglich“. Das Erreichte findet sich alsbald mit der weltweit vernetzten Selbstbauer-Gemeinde geteilt. Warum? In Pass’ eigenen Worten: „Das ist mein Ventil für einige coole Ideen und Dinge, die sonst auf der Strecke bleiben würden, und es verschafft mir eine Ausrede für meine Experimente mit unorthodoxen Herangehensweisen, rein um des Vergnügens willen.“
Ja, Papa Pass hat’s drauf. Sieben seiner Schaltungskniffe sind patentiert. Über den Klang seiner ausnahmslos transistorisierten Geräte schwärmen erstaunlich viele Röhren-Liebhaber. Humor hat er auch. Die FAQ („frequently asked questions“) auf der Homepage www.passlabs.com enthalten genau zwei Fragen. Frage Nummer 1: Warum Class A? Antwort: Weil’s besser klingt. Frage Nummer 2: Warum Class AB? Antwort: Mehr Leistung – weniger Wärme.
Der Vollverstärker INT-30A, mit dem wir es hier zu tun haben, ist ein Class-A-Gerät. Seine Leistungstransistoren stehen also, vereinfacht gesagt, permanent unter höherem Ruhestrom als eigentlich nötig und produzieren dafür weniger Verzerrungen. Pass hält mit seiner Begeisterung für diese Betriebsweise nicht hinterm Berg. Den INT-30A nennt er „Kronjuwel“, zum fast identischen, im effizienteren AB-Betrieb laufenden Vollverstärkerbruder INT-150 heißt es dagegen nur nüchtern: das stärkere INT-30A-Derivat.
Wie üblich bei kräftigeren
Class-A-Verstärkern, liegt auch beim 30er nur etwa das untere Drittel der Gesamtleistung im Strom schluckenden A-Bereich und wechselt darüber in Class-AB-Betrieb. Auf diese Weise hält sich die Erwärmung des Verstärkers in Grenzen, und der Stromrechnung schadet es auch nicht. Natürlich ist nicht Class A alleine der Schlüssel zum Glück. Der INT-30A ist schließlich ein Spross der großen XA.5-Verstärkerfamilie, für deren Entwicklung sich Nelson Pass fünf Jahre Zeit genommen hat, bevor er sie 2008 der Öffentlichkeit vorstellte. Allen XA-5-Verstärkern gemein ist der vollsymmetrische Aufbau, genauer gesagt dessen Pass-Variante namens Super Symmetrical, kurz Su-Sy. Su-Sy soll Störungen noch effektiver auslöschen als der bekannte symmetrische Aufbau, wie er etwa bei Studioelektronik Standard ist. Und da Pass schon beim Entwickeln war, optimierte er im gleichen Aufwasch die Ruhestromregelung und die Ausgangsstufe, verpasste seinen Verstärkern kräftigere Netzteile und erhöhte die Zahl der MOSFET-Leistungstransistoren. INT-30A und INT-150 sind die ersten Integrierten von Nelson Pass. Sie basieren auf den jeweils kleinsten Endstufen ihrer Betriebsklasse – im Falle des INT-30A ist das die XA30.5. Die Vorstufensektion ist dementsprechend der kleinsten Pass-Vorstufe XP-10 entnommen, eine auf das Allernötigste reduzierte (siehe: Pass-Minimalismus) Kombination aus Quellenumschaltung und elektronischem Lautstärkeregler mit einer einfachen Buffer-Stufe. So gesehen ist der Vollverstärker also Pass-Vollkost und allein schon wegen der Reduktion auf ein Gehäuse eine mögliche Ideallösung für Audiophile in Platznöten.
Dem Design des Pass
INT-30A gebührt Lob, weil es bei Ausstattung und Ergonomie sehr viel richtig macht. Der Amp bietet nur vier Line-Eingänge. Interessenten in dieser Gewichtsklasse betreiben ohnehin separate Phono-Vorverstärker, wozu also Energie in eine Kompromisslösung stecken? Auf eine Aufnahmeschleife wurde verzichtet, dafür lässt sich eine separate Endstufe anschließen. Das alte Dilemma „drücken oder drehen“ wurde perfekt gelöst, ein schöner, großer, satt laufender Drehknopf für die Lautstärke und Druckknöpfe für Ein/Aus, Stummschaltung und Quellenwahl machen die Bedienungsanleitung überflüssig. Dazu die kanalgetrennte (!) Pegelanzeige per blau leuchtendes, abschaltbares Display, und das Glück ist vollkommen. Nichtsdestotrotz, zwei Eigentümlichkeiten: Der Ein/ Aus-Knopf an der Front heißt schlicht „Power“, und schaltet man hier aus, erlischt seine Status-LED. Dann ist der Verstärker aber mitnichten aus, sondern wärmt sich mit satten 30 Watt die Kühlrippen, damit es beim Wiedereinschalten rasch wieder optimal klingt. Der „harte“ Netzschalter versteckt sich an der Rückseite. Und mag das Gehäuse auch massiv wirken – hinter der zentimeterdicken Front geht’s durchaus resonanzfreudig zu. Die schicken Kühlkörper, die dem 30-Kilo-Boliden optisch Flügelchen verleihen, reagieren auf leichtes Klopfen mit einem freudigen Klingeln. Vermutlich wirft das kein Elektron aus seiner Leiterbahn, wer allerdings, wie allgemein üblich, Resonanzarmut per se als Qualitätskriterium begreift, wird sich wundern.
Der INT-30A leistet
30 Watt. Klar, warum sonst die 30 im Namen? Damit ist er aber ein Verstärker für Spezialisten, nicht wahr? Um sich im Fortissimo nicht zu verschlucken, müssen da bestimmt Lautsprecher der Klasse „röhrentauglich“ ran – Empfindlichkeit mindestens 90 Dezibel pro Watt und Meter, Impedanz gerne sechs bis acht Ohm. Womöglich sogar ein Horn! Sorry, Etikettenschwindel. Pass gibt die Ausgangsleistung bei sechs Ohm an, und auch da nur den Class- A-Anteil. Meine Frage nach den echten Zahlen wird beantwortet mit: 150 Watt an 4 Ohm bei weniger als einem Prozent Klirr. Und wenn niederohmige Boxen mal mehr Strom zögen – kein Problem, die Leistungssektion könne liefern. Also doch ein Heavy-Metal-Amerikaner!
Ideale Partner
für einen wie den Pass sind meine Ayon Seagull/c. Sie stellen für mich das paradoxe Ideal einer gutmütigen akustischen Lupe dar. Gutmütig, weil sich die Österreicherinnen schon an 10-Watt- Verstärkern betreiben lassen. Mit Elektronik der hochmusikalischen gehobenen Mittelklasse wie meinen Naims machen sie enorm viel Spaß. Auch mit Komponenten der Topliga im Wert von Kleinwagen kooperieren sie ohne Murren und zeigen dabei stoisch an, was gerade Sache ist. Überfordert habe ich sie jedenfalls noch nie erlebt.So kündigen sich hier Synergien an. Die 90 Dezibel Empfindlichkeit der Ayons bedeuten, dass der Verstärker auch dann noch im idealen unteren Class-A-Drittel seines Leistungsvermögens arbeiten wird, wenn es mal lauter wird. Und der sensible Keramikhochtöner der Zweiwege-Boxen verspricht dem Class-A-Mythos vom extra reinen Sound gnadenlos auf den Grund zu gehen. Das Aufstellen und Verkabeln mit meiner Anlage ist also mit besonderer Vorfreude verbunden.
Als Erstes musste ich Klassik hören. Das ist immer so, das akustische Instrument verortet mich in der Disziplin Klangfarben, die mir am wichtigsten ist – was verfärbt, fliegt. Also Geige, Klavier, Cello, natürliche oder zumindest natürlich wirkende Räume. Da zeigt sich der Pass als Innenarchitekt: Räume sind ihm alles. Nehmen wir eine meiner ältesten Referenzaufnahmen, Gidon Kremer mit der Violinsonate von César Franck, am Klavier Oleg Maisenberg, eine exzellente Liveaufnahme mit sehr direkt abgebildeten Instrumenten und hörbarer Publikumsteilnahme. So intensiv war das Gefühl, in einen Saal hineinzuhorchen, noch nie. Das Tolle nun: Der Raum wirkt wie eine Klammer, er gibt der Musik, die in ihm erschaffen wird, Zusammenhang und lässt so den Konzertmitschnitt gespenstisch real wirken. Womit ein Versprechen von Nelson Pass eingelöst wäre: Der INT- 30A biete „you-are-there quality“.
Ähnliches bei einer Aufnahme
des großen Pianisten Murray Perahia. Er spielt Mendelssohn in einem akustisch nicht komplett von der Außenwelt isolierten Studio, die Saitendämpfer rascheln vernehmbar, Perahia selbst sorgt auch für das ein oder andere Nebengeräusch – gefundenes Fressen für unsereins. Diese Aufnahme verändert sich mit jedem Eingriff in die Anlage. Ich habe das Klavier schon klirrend hart gehört, aber auch wohlig weich, als hätte jemand Wattebäuschchen auf die Hämmer geklebt. Die Pass-Version geht so: Ich drücke „Play“, und nach einer Stunde ist die CD aus. Dazwischen liegt ein flirrender, singender Mendelssohn-Kosmos, den zu unterbrechen unmöglich ist. Keine Note, weder laut noch leise, fällt aus dem Rahmen. Wo Perahia in die Tasten haut, dass es in den Ohren klingelt, steht einzig die Melodie im Vordergrund. Wieder einmal zeigt sich, dass es, wenn laut Hören wehtut, sehr oft am Verstärker liegt, und nicht an der Box. Nochmal Klavier, aber anders, mit Abdullah Ibrahim am Flügel, Marcus McLaurine am Bass und George Gray am Schlagzeug. Der virtuelle Aufnahmeraum hier war mir immer schon ein Rätsel. Warum, zum Geier, klingt der Drummer, als säße er zwei Zimmer weiter im gekachelten Badezimmer? Und warum scheint mein Kopf gleichzeitig tief im geöffneten Flügel zu hängen? Der Pass löst das Rätsel, indem er die fehlenden Raumbezüge herstellt. Plötzlich stimmen die Größenbeziehungen der Instrumente zueinander. So einfach. Das ist nun wirklich magisch.
Ein Verstärker mit
Weltklasse-Ambitionen muss die Grenzen des Hörbaren spektakulär ausloten. Der INT-30A kommt mit Vorschusslorbeeren dekoriert – er betöre mit den saubersten, geschmeidigsten Höhen, erreiche im Bass aber nicht ganz die Macht (manche meinen auch: Brutalität) des stärkeren Zwillingsbrüderchens INT-150A. Ich sage: Nelson Pass’ kleinstes Baby ist ein kompakter Integrierter mit der Souveränität der ganz großen. Sein Charakter ist der eines Sprinters mit Muskeln. Fettfrei und durchtrainiert, entfaltet er seine Kraft blitzschnell, was im Bass zu einem ausgezeichneten Timing führt. Der ausgedehnte Hochton macht Myriaden feinster Details hörbar und ist von einer mühelosen Anmut, dass man ihm wohl wirklich jenen berühmten Class-A-Schmelz attestieren muss.
Bei aller Souveränität ist das kein Laid-back-Spiel. Wer das sucht, sollte sich eher in Richtung anderer großer Amerikaner umsehen – McIntosh oder Audio Research definieren Größe auf ganz andere, nicht weniger ansprechende Weise. Der Pass ist ein hochauflösender, kraft- und temperamentvoller Geselle, der den Hörer auf Tuchfühlung mit der Musik bringt. Kronjuwel? Gut möglich.