Tokyo – ein magischer Ort für Musik
Tokyo ist nicht nur unfassbar groß, Tokyo ist auch ein magischer Ort für Musik.
Es gibt wahrscheinlich nur wenige Orte auf der Welt, in denen man sich dem Thema Musik, Musikwiedergabe und dem „Konsumieren von Musik“ so ernsthaft und mit unglaublicher Hingabe nähert, wie die Metropole Tokyo – was in gewisser Weise auch für Japan generell gilt.
Die Spitze dieser einzigartig hingebungsvollen Haltung Musik gegenüber stellt sicher die „Tokyo International Audio Show“ dar. Diese High-End-Messe konzentriert sich ausschließlich auf die qualitativ höchstmögliche Musikwiedergabe (FIDELITY berichtete ausführlich, den Bericht mit über 400 Bildern finden Sie hier), sonst nichts. Allein schon die Disziplin, mit der die Japaner diese Show besuchen, ist bemerkenswert: Da wird während der Vorführung nicht gequatscht, und die Höflichkeit gebietet es, eine Vorführung nicht vorzeitig zu verlassen.
Aber „Musik in Tokyo“ bedeutet natürlich nicht nur die Audio Show. Die Stadt atmet an jeder Ecke Musik, ist reich an klangverliebten Cafés, Bars, kleinen Clubs, Plattenläden, HiFi-Händlern und nicht zuletzt auch an Straßenmusikern. Es gibt eine Kultur des guten Klangs und zahlreiche magische Orte für und mit Musik. Obwohl es von diesen Orten nur so wimmelt, bleiben viele davon dem „normalen“ Reisenden jedoch verborgen, denn sie sind oft in Kellern, Hinterhöfen und Hochhäusern versteckt, alles ohne Hinweistafeln und daher nur Insidern bekannt.
Die gängige Praxis, Vinyl auf einem feinen High-Fidelity-Soundsystem zu hören, oft in gedämpfter Atmosphäre, hat tiefe Wurzeln in Japan. Sie geht zurück auf die Jazz- und Klassik-Cafés, die hier in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg höchste Popularität genossen – in einer Zeit, in der importierte Platten unerschwinglich waren. Das bedeutete, dass für viele Menschen es die einzigen Orte waren, an denen man gute Musik aus dem Ausland hören konnte. Der Fokus in diesen Musik-Cafés lag auf tiefem, konzentriertem Zuhören.
Ein besonderer Ort: Das Lion Musik-Café
Wenn man genau hinschaut, findet man in Tokyo viele Orte, an denen dieser Geist noch präsent ist und gepflegt wird. Beispielsweise das Lion Café, eines der verbliebenen Klassische-Musik-Cafés der Stadt. Das Lion eröffnete 1926. Nachdem es im zweiten Weltkrieg den Flammen zum Opfer gefallen war, wurde es 1950 wieder originalgetreu aufgebaut und ist heute noch immer weitestgehend im Originalzustand. Das Lion offeriert zwei Genüsse – Kaffee und klassische Musik – in außergewöhnlich guter Qualität und liegt in einer schmalen, ruhigen Seitenstraße in Shibuya, einem der belebtesten Viertel Tokyos.
Das Lion zu betreten ist wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Das Innenleben des Cafés besitzt eine Art würdevolle Pracht. Ein Kronleuchter hängt von der Decke und ein riesiges hölzernes Soundsystem sitzt imposant hoch auf einem Sockel, auf beiden Seiten von Säulen flankiert. Alle Sitzgelegenheiten sind in Richtung des Soundsystems ausgerichtet. Die Mitarbeiter spielen klassische Musik auf Vinyl – gelegentlich auch von CD – und geben vor jeder Auswahl eine kurze, leise geflüsterte Einführung zu dem, was gleich zu hören sein wird. Unterhaltungen sind im Lion ausdrücklich nicht erwünscht, was den Gästen wiederum die Freiheit gibt, zu lesen, zu schreiben, zu dösen oder einfach in aller Stille dazusitzen und die Musik in sich aufzunehmen. Alles andere als einfach ist es auch, Bilder dieser einmaligen Oase inmitten einer der geschäftigsten Städte der Welt zu erhalten. Die Gäste des Lion Cafés fühlen sich von allem gestört, was nicht unmittelbar mit der aktuellen Musikpräsentation in direktem Zusammenhang steht. Mobiltelefone etwa müssen auf stumm geschaltet sein und vor dem Hintergrund einer strikten „No-Photography“-Regel erntet unsere Kamera vernichtende Blicke.
Das Lion ist ein Ort, an dem die Zeit stillsteht. Man scheint sich in einer Zeitblase des Jahres 1926 zu befinden: eine Institution mit bis auf den Grund abgewetzten Linoleum-Böden, knarzendem Holz und durchgesessenem Mobiliar. Und es ist dunkel. Man atmet im wahrsten Sinne Geschichte. Für diesen Ort bedarf es einer Steigerung des Wortes Patina. Der Klang des gigantischen Soundsystems ist im besten Sinne historisch und erinnert an eine alte Kinobeschallung. Es thront hoch an der Wand über den Plattenspielern und beschallt von dort den ganzen, etwa 70 Quadratmeter großen Raum. Es gibt für die Gäste auch eine kleine Empore, die sich auf Höhe und direkt gegenüber des Soundsystems befindet. Der Klang hat wenig bis gar nichts mit HiFi, High End oder auch nur Stereo zu tun. Trotzdem ist er faszinierend: Er ist angenehm timbriert, durchflutet den Raum auf geradezu spirituelle Art und Weise und unterstreicht die allgemeine Patina perfekt. Das Publikum im Lion Café ist übrigens auffallend gemischt, von ganz jung bis ganz alt. Ein wunderbarer Ort, der zum stundenlangen Verweilen einlädt.
Tendenziell deutlich jünger wird es dann im Bonobo Club.
Das Bonobo befindet sich in einem kleinen alten Gebäude in Shibuya – in einer Gegend, in die sich Touristen normalerweise eher nicht hin verirren. Auch im Bonobo Club ist es dunkel, doch auch hier herrscht eine freundliche Grundstimmung. Man hat das Gefühl, sich in einer Höhle zu befinden. Hinter dem DJ ragen zwei große Altec 843 Malibu Lautsprecher mit zusätzlichen Bändchenhochtönern in die Höhe. Aufgelegt wird von Schallplatte, CD und Rechner. Der Fokus liegt im Bonobo klar auf Klangqualität, nicht auf Lautstärke.
In der unteren Etage gibt es noch ein kleines Restaurant, im oberen einen ebenso kleinen Chill-Out-Bereich. Musikalisch ist der Bonobo Club im Allgemeinen auf Electro-Genres ausgerichtet. Bei unserem Besuch läuft allerdings eine längere Motown-Session, die absolut superb klingt. Gelegentlich soll es sogar Live-Auftritte im Bonobo geben.
Zu unserer Überraschung treffen wir im Chill-Out-Bereich auf einen Deutschen, der in Long Beach, Kalifornien, zu Hause ist. Der 26-jährige Christian Riescher ist DJ, einer der ganz besonderen Art. Sein bevorzugtes Musikmedium ist weder Vinyl, noch eine Variante der digitalen Quellen – sein Medium ist die CompactCassette. Er „legt“ von Cassette auf und benutzt dazu mehrere Sony Walkman Pro vom Typ WM-D6C. Wer genauer wissen will, was Christian Riescher macht, sollte die Seite www.fuzzoscope.com besuchen. Dort gibt es gesampelte Mixtapes in Hülle und Fülle. Zum Runterladen (digital) oder auch bestellbar als CompactCassette, in alles kann man vorher reinhören. Und es sind eine Menge interessanter Dinge dabei. Leider können wir nicht mehr dabei sein, als es für Christian im Bonobo losgeht, denn wir müssen weiterziehen.
Letzte Anlaufstelle dieser Nacht ist das Oath, ein ebenso winziger Club wie das Bonobo.
Das Oath ist ein beliebter Treffpunkt für „internationale“ DJs. Wenn es warm ist, schwappt die Gästemenge oft nach draußen, wo die Musik noch zu hören ist, um zu rauchen und zu plaudern. Bei unserem Besuch gibt es draußen ein kleines BBQ. Im Inneren des Oath finden sich eine gepolsterte rote Decke, Steinwände und Samtvorhänge. Jedes Getränk kostet 500 Yen (ungefähr 4 €), was somit eine attraktive Option für Einheimische und Touristen mit kleinem Budget ist. Aufgelegt wird hauptsächlich von Schallplatte. Die Beschallung besteht aus einer Vielzahl kleiner Tannoy Pro Studiomonitore, die in ihrer Gesamtheit den kleinen Raum sehr überzeugend und griffig mit Musik ausleuchten. Und auch hier ist klar: Klangqualität geht vor Lautstärke.
Die Idee, eine wohnliche Umgebung zu schaffen, ist für Tokyos audiophile Veranstaltungsorte genauso wichtig wie die Klangbegeisterung. Diese Orte füllen verschiedene Lücken im Leben der Menschen, sei es das Bedürfnis nach Einsamkeit oder nach Geselligkeit.
Wir fragen uns, warum es so viele kleine Clubs gibt und erhalten von einem Insider eine interessante Antwort: In Japan gibt es eine sehr strikte Gastronomie-Gesetzgebung. Zahlreiche Hürden erschweren die Zulassung für einen größeren Betrieb, zudem werden diese auch schärfer überwacht. Also gehen etliche den Weg des geringeren Widerstandes. 66 Quadratmeter ist hierbei die magische Grenze: Alles drüber zählt als groß, alles drunter zählt als klein. Das Resultat sind viele einzigartige Veranstaltungsorte, die nicht für den Profit, vielmehr aus Liebe an der Sache funktionieren.
Plattenläden in Tokyo
Ähnliches gilt in Tokyo für Plattenläden, egal ob mit Schwerpunkt auf Vinyl, CD oder beidem. Diese sind über das ganze Stadtgebiet verteilt, konzentrieren sich aber immer dort, wo es auch Unterhaltungselektronik zu kaufen gibt, beispielsweise im Stadtteil Akihabara (Electric City). Vergleichbar zu den Bars, Cafés und Clubs sollte man aber wissen, wo genau man schauen muss, denn auch die Plattenläden Tokyos scheinen sich gern zu verstecken, nur etwas für Insider zu sein. Eine Beschreibung zum Finden lautet etwa so: „Wenn ihr aus der S-Bahn rauskommt, einfach immer geradeaus weiter gehen, rüber über die große Kreuzung, weiter geradeaus. An der nächsten Ampel dann rechts rein in die kleine Straße. Dort seht ihr nach ungefähr 200 Meter rechts an der Häuserwand direkt auf Augenhöhe einen kleinen blauen Aufkleber mit einer Bierreklame. Rechts davon führt eine Treppe hoch in den ersten Stock. Da ist der Plattenladen“. Und wir haben ihn tatsächlich gefunden!
Plattenläden funktionieren in Tokyo ähnlich wie auch in Deutschland. Die meisten haben sich auf gewisse Genres spezialisiert. Und man kommt nicht einfach nur zum Kaufen, sondern bleibt gern zum Stöbern und „Reinhören“. Auffallend ist, dass die Kunden in den Plattenläden beinahe durchgängig jung sind. Keiner der Läden, die wir besuchen, ist in irgendeiner Art und Weise „durchgestylt“, alle haben einen eher nüchternen bis sogar lieblosen Anstrich, was aber offensichtlich kein Nachteil ist.
HiFi-Händler in Tokyo
Der Stadtteil Akihabara bietet viele weitere Highlights. Nirgendwo sonst ist der Kauf von HiFi- und High-End-Komponenten so einfach. Da wäre beispielsweise „Yodobashi Camera“. 1960 gegründet, konzentriert sich die Einzelhandelskette Yodobashi weitestgehend auf Elektronikprodukte, obwohl alles, wie der Name vermuten lässt, mit Kameras und Kamerazubehör angefangen hat. Acht der insgesamt 23 Filialen verteilen sich in der Präfektur Tokyo. Wir besuchen die Filiale Akihabara und sind sprachlos. Die schiere Größe und das Portfolio sind einzigartig. Stellen Sie sich einen der deutschen Großflächenmärkte vor und multiplizieren sie jetzt die Fläche mit einem Faktor zwischen drei und sechs.
Stellen Sie sich zudem vor, es gäbe nicht nur „HiFi von der Stange“, sondern nahezu alles, was der High-End-Audio- und Zubehör-Markt so hergibt, . Und zwar alles lagernd, alles vorführbereit. Sie suchen ein bestimmtes Ortofon SPU? Kein Problem, gehen Sie einfach zur SPU-Vitrine und suchen sich „Ihr“ SPU aus. Sie suchen diese großartigen Plattentellermatten aus naturbelassenem Japanpapier (Washi)? Kein Ding, in der entsprechenden Vitrine dafür finden sie wahrscheinlich 40 Varianten davon – für kleines Geld. Kabel oder Steckdosenverteiler, mit oder ohne Filter, gibt es hier zu hunderten. Exotische Tonarme? You just name it! Und es wird noch besser: Yodobashi hat selbstverständlich auch Lautsprecherchassis der Oberliga in Vitrinen vorrätig. Die Spitze dürfte aber sicherlich die Abteilung für Röhren sein. Es gibt keinen, aber auch wirklich gar keinen Röhrentyp, der hier nicht vorrätig sein sollte – selbstredend von verschiedensten Herstellern und natürlich auch als „New Old Stock“. Unfassbar! Yodobashi hat dabei seinen ganz besonderen Charme, der sicher nicht jedermanns Sache ist: Es ist ein Kaufhaus – kein Fachhändler, so wie wir ihn kennen.
Klassische HiFi-Fachhändler gibt es in Tokyo natürlich auch. Wir besuchen Dynamic Audio. 1965 gegründet, ist Dynamic Audio mittlerweile der größte HiFi-Händler in Tokyo. 2001 wurde das aktuelle Gebäude bezogen: nicht weniger als sieben (!) komplette Stockwerke für HiFi- und High-End-Equipment. Das dürfte sogar weltweit einzigartig sein, uns jedenfalls fällt nichts Vergleichbares ein. Und wir wären nicht in Japan, wenn es nicht auch hier eine strenge Ordnung gäbe.
Das Angebot sortiert sich von oben nach unten. Das heißt, oben im siebten Stock befinden sich die mit Abstand teuersten Komponenten, mit jedem Stockwerk tiefer wird es spürbar preisgünstiger. Ganz unten im Eingangsbereich gibt es dann normales HiFi, Kopfhörer und mobile Abspielgeräte. Dynamic Audio orientiert sich zwar am Mainstream-Weltmarkt und zeigt nur wenige echte „High-End-Exoten“. Doch diejenigen Exoten, die hier präsentiert werden, haben es dann auch in sich. So ist hier beispielsweise eine komplette Kette von Daniel Hertz zu hören, die verdammt nah am Live-Erlebnis ist. Oder die hierzulande völlig unbekannten Lautsprecher von HIRO Acoustic Laboratory, die den Raum an einem Esoteric Frontend ätherisch auszuleuchten vermögen.
Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite gibt es das Dynamic Audio „Audio Trade Center“. Ein Geschäft, das über vier Stockwerke hinweg für gebrauchtes und historisches HiFi und High End reserviert ist. Leider schaffen wir es nicht mehr, auch dort noch einen Blick zu riskieren. Unsere Zeit in Japans Hauptstadt ist einfach zu knapp.
Im Stadtteil Yaesu finden wir den Gibson-Brands Erlebnis-Store. Dort taucht der Besucher auf 2 Stockwerken in die Welt von Gibson, Philips, TEAC, TASCAM; Pioneer und Onkyo ein. Ausprobieren ausdrücklich erwünscht. Dieser Store ist anders, denn er verbindet die produzierende mit der konsumierenden Welt. Es gibt ein kleines, gut ausgestattetes Aufnahmestudio, das für faires Geld gebucht werden kann und eine kleine Bühne, mit regelmäßigen Rock-, Pop- und Jazz-Konzerten. Der Umgang ist betont lässig, beinahe freundschaftlich. Ein Ort an dem man sich auf Anhieb wohl fühlt.
Tokyo City Lights
Tokyo fasziniert, ist es doch anders als andere Metropolen. Die Stadt ist – vor allem für ihre enorme Größe – ungewöhnlich leise. Natürlich nicht in den Vergnügungsvierteln, aber überall sonst fühlt man sich ein wenig wie in Watte gepackt. Keine Autohupen, keine Polizeisirenen sind zu hören. Und wie kaum eine zweite Metropole vermittelt die Stadt bei Tag und Nacht ein Gefühl von Sicherheit. Mitten in der Stadt gibt es den großen Yoyogi Park, der seine Besucher bereits nach wenigen Metern vergessen lässt, sich in der größten Metropolregion der Welt zu befinden. Direkt angrenzend an den Park ist der berühmte Meiji-Schrein zu finden, der dem Meiji-Tenno und seiner Frau gewidmet ist.
Die Stadt ist auf eine völlig unaggressive Art und Weise in Bewegung, was ein eventuelles Unbehagen angesichts der gewaltigen Menschenmengen stark relativiert. Überhaupt ist es in dieser Stadt kein Problem, sich tatsächlich zu „bewegen“. Der öffentliche Verkehr hat eine präzise Taktung wie nirgends sonst: 15 Sekunden Verzögerung im Fahrplan gelten schon als Verspätung, die nicht akzeptabel ist. Und an Wochenenden werden teilweise auch große Straßen gesperrt, um diese temporär in Fußgängerzonen zu verwandeln.
In Tokyo ist vieles anders, aber eines ist klar: Tokyo ist ein magischer Ort für Musik. Vielleicht sogar der beste Ort für Musik überhaupt.